fast wie früher. wieder alles offen. fast alles erlaubt. nur mitunter auch abrutschende schutzmaske und spürbar schmelzende distanzregeln. wer würde sich nicht wünschen, alles wieder ungefährdet tun und lassen zu können. aufatmen? für die einen zu früh, für die anderen zu spät. und in die zunehmend wirre lage preschen die verschwörungs- und populärtheorien von rechts bis wirr, von bizarr bis naiv.
fast wie früher. wirklich? nach dem ersten sturm auf die grossen einkaufszentren und dem schnell ergatterten friseurtermin kommt was? der nächste öffnungsschritt? das abschaffen aller distanzen? vielleicht. doch wohl eher nicht.
ob wir es „rebound“ oder „zweite welle“ nennen ist einerlei, dass derartiges auf uns zukommt, ist für viele seriöse quellen ziemlich eindeutig. für manche expert*innen gehen daher die öffnungsschritte momentan zu schnell. aber wir müssen leider abwarten.
erkennbar wird bereits ein dilemma, in welchem wir uns derzeit befinden: der „lock down“ der letzten wochen war noch nie so unpopulär, wie in den letzten tagen. rein psychologisch auch gut nachvollziehbar. jeder ausnahmezustand hat sein ablaufdatum, dann beginnt die rebellion dagegen. von leisem protest bis zur offenen ignoranz ist da alles möglich.
momentan ist es „nur“ die spannung zwischen jenen, die „endlich“ schreien und den anderen, die „moment mal“ rufen würden. doch sollten wir uns mal kurz vor augen halten, was passiert, wenn nun tatsächlich die reproduktionszahl wieder deutlich über eins und weiter nach oben klettert, wenn sich also eine neuerliche „exponentielle zunahme“ an neuen fällen abzeichnet.
da werden expert*innen und manche politiker*innen mit grossem bedauern einen zweiten „lock down“ fordern. angesichts der mangelnden beliebtheit, ja mitunter vielleicht sogar verhasstheit derartiger neuer massnahmen wird es aber auch expert*innen und politiker*innen geben, die mit salbungsvollen worten eine „neue vernunft“ herbeireden werden.
zahlreiche unternehmer*innen sind bereits jetzt schon am rande der existenz angelangt. ob EPUs und KMUs, vielen hat corona nicht nur in diesen wochen den umsatz zerstört, die folgen danach sind noch nicht einmal klar zu erkennen, viele wirtschaftsbetriebe werden auch nicht einfach aus der krise herauskommen.
jene, die etwas mehr glück hatten und jetzt noch nicht umgefallen sind, aber auf schwachen beinen stehen, werden mit vehemenz jeden zweiten lock down bekämpfen. dadurch wird eine breite allianz von „massnahmen-skeptiker*innen“ und „massnahmen-verweigerinnen“ entstehen.
wolfgang schäuble hat vor wenigen tagen eine erste schneise in den wald der menschenrechte geschlagen. die menschenwürde sei zwar unantastbar, aber das schliesse nicht aus, „dass wir sterben müssen“. (vgl. die zeit, 26.4.) der lebensschutz könne nicht immer oberste priorität haben, so der deutsche bundestagspräsident. damit öffnet er einem wirtschaftsbegriff tür und tor, der umsatz und gewinn gegen menschenleben aufrechnet. ein verantwortlicher wirtschaftbegriff würde diese „gegenrechnung“ niemals zulassen.
die wirtschaftlichen folgen werden noch nicht wirklich realisiert, mit jedem tag werden wir uns wundern müssen, wie schnell konzerne wieder einmal gerettet werden müssen, einzelnen menschen aber das abrutschen in armut zugemutet wird. je schlimmer die auswirkungen umso unpopulärer der schutz von sogenannten risikogruppen, die allein durch diese betitelung schon mal ausgegrenzt und gesondert betrachtet werden. wie wenn es solche und solche menschenleben gäbe.
ein mensch, der auf offenem meer dem ertrinken überlassen wird, weil sich die festung europa keine aus not geflüchteten leisten will, könnte uns zurufen: „seht ihr jetzt wie es ist, wenn zwischen solchen, die auf kosten anderer überleben wollen und solchen, die deshalb sterben sollen, unterschieden wird? jetzt habt ihr diesen konflikt mitten in eurer ach so feinen festung!“
wir stehen vor schwierigen zeiten. ohne widerstand sind menschenrechte wieder einmal nur soviel wert, wie es den mächtigen in den kram passt. und ein teil der wirtschaft drängt auf umsatz, auch wenn es menschenleben kosten sollte. dabei muss eine lebenserhaltende und lebensförderliche wirtschaft das ziel sein.
manche hoffen sogar auf neue wege, die wir in der krise finden könnten. vorerst müssen wir erst mal aus der krise erhobenen hauptes herauskommen. mögen wir die „zweite welle“ ohne verlust jeglichen humanitären anspruches bewältigen.
im freien spiel der wirtschaftsmächte würde ein individuelles menschenleben kaum etwas wert sein. humantäre ziele sind noch selten ein anliegen der weltkonzerne gewesen. es wird nicht ausreichen, sich und seine eigene haut retten zu wollen, wir sind für uns alle verantwortlich. das wird ein hartes stück arbeit.
wir könnten zerbrechen
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bild: Olaf Kosinsky CC BY-SA 3.0 de