Ich entstamme einer vernachlässigten Generation. Einer, die es nie gelernt hat, sich politisch zu artikulieren - einer, der man es nie beigebracht hat, den Mund aufzureißen, zu protestieren, wenn es zu viel wird. Man hat uns vernachlässigt, hat uns gesagt, wir sollen immer schön brav mit sein, nicht gegen - sollen mitschwimmen, mitmachen, mitrudern. Aber bloß nicht zu rücksichtsvoll, vielmehr egoistisch mitmachen, dann klappe es besonders gut im Leben.
Ich, als Teil meiner Generation, kenne das kaum, dass Menschen protestieren. In den Achtzigerjahren war ich noch zu klein. Als Junge sah ich Menschenketten, aber keinen Sinn darin. Der Aufbruch der DDR-Bürger war Folklore für mich; weinende Menschen, weich gewordene Grenzer, ein adipöser Kanzlerkönig, der sich als Erlöser bejubeln ließ - für mich damals nicht zu verstehen. Der Junge, der das sah, er fand es schön, kitschig und sicherlich herrlich romantisch.
In den Neunzigern gab es keine nennenswerten Protestbewegungen. Der yuppie-Flair, der im Jahrzehnt zuvor nur das Benehmen einiger überheblicher Arschlöcher war, wurde nun zum Allgemeingut. Und das sah keinen Protest vor. Man war ja noch im Aufbruch, die Geschichte war beendet, das Schattenreich zu Boden gerungen. Menschenmassen kamen nur zusammen, wenn englische Prinzessinnen starben oder Geistesschwache aus mit Kameras und Mikrofonen bestückten Containern entlassen wurden. In diesen Neunzigern wurde ich sozialisiert - da wurde meine Generation und ich sträflich vernachlässigt.
Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts kam Missstimmung auf. Kleine Proteste. Im Ausland rabiater, hier gewohnt leise. Montagsdemonstrationen, die gegen Hartz IV protestierten. Eine regionale, höchstens eine nationale Erscheinung! Jahrelang habe man gearbeitet und nun Hartz IV, vernahm man von der Straße - diese Proteste waren spezifisch, nicht universell. Es ging nicht um Menschenwürde generell, sondern um die Würde derer, die jahrelang gearbeitet haben. Und dann Stuttgart - der Protest betuchter Schichten, der nichts von Protest gegen den Zeitgeist hatte, nur einem Bahnhof und seinen sich daran mästenden Profiteure geschuldet war.
Erstmals in meinem Leben sehe ich nun eine Bewegung, in der ich mehr wittere als Aktionismus oder ein laues Mütchen, das gekühlt werden muß in einem schattigen Park unter Kastanien. Einen universellen und globalen Protest. Ich mag mich irren, dann verzeihe man mir. Meine Generation hat wenig Ahnung in solchen Dingen, kann demnach durchaus falsch liegen. Doch erstmals scheint es, als formiere sich da etwas Weltbewegendes. Es geht nicht um Ästchen, die man dem System zurechtstutzen möchte, man tätigt sich am Wurzelstock, der schon erbärmlich nach Zersetzung mieft. Eine Internationale der Vernunft und des Anstandes scheint sich nun zu konstituieren - das muß nicht alles von Erfolg beschert sein, aber es ist von Idealen beseelt. Von universellen Idealen und von globalen Visionen.
Meine Generation ist eine Generation von Anti-Bewegungs-Säuglingen. Wir kennen Protest entweder gar nicht oder nur als süffiges Spektakel - noch dazu oft genug waren nur wenig fruchtbare Gründe ausschlaggebend. Vor unserer Zeit, da gab es noch dieses Flair, sich nicht auf der Nase rumtanzen zu lassen. Aber da waren wir noch der fromme Wunsch oder der hoffentlich nie eintretende Alptraum unserer Väter - im Jahrzehnt unserer Werdung dämpfte man die Protestkultur bereits. Der Demonstrant, er wurde ganz einfach der Fraktion zugesellt, die im Namen der Roten Armee Attentate verübte - man war plötzlich Terrorist, wenn man wutentbrannt die Straßen bevölkerte. Noch die Anti-AKW-Bewegung hat das mehr als eine Dekade später verspürt - nur davon wissen wir als Generation nichts. Wir stehen vor einem unentdeckten Land, wenn wir nun sehen, dass die Unzufriedenheit nun eine globale und generalisierte Dimension annimmt.
Vielleicht wankt das, was da seit den Neunzigern verstärkt die Wirklichkeit wird, doch noch einmal - das, was in dem Jahrzehnt geschah, da sich meine Generation sozialisierte. Dabei ist wahr, dass wir uns nie sozialisierten - man asozialisierte uns; man brachte uns bei, dass Egoismus immer, immer, ja immer gesund sei. Was des yuppie-Arschlochs Style war, sollte in diesem Jahrzehnt uns allen ideologisch in den Arsch gestopft werden. Die Kommunikationsrevolution, neue Techniken schienen dem neuen Weltbild recht zu geben. Der zornig "demonstrierende Mensch", dieser homo iratus, er war der vergangene Mensch, die personifizierte Peinlichkeit aus Jahrzehnten, die wir nicht oder nur im Nebel kindlicher Wahrnehmung erlebten. Wir verlachten ihn; wir nannten ihn irgendwo auch Spinner, wir wollten anders sein als diese stets betroffenen, stets anteilnehmenden Gemüter.
Weiterentwickelt hat sich unsere Generation wenig. Einzelne aus ihr schon. Man wurde älter, man las, man überdachte, geriet selbst in Not und Springfluten des Lebens und ruderte sich frei. Manche zogen daraus ihre Lehren. Einige verschärften die Asozialisierung; andere revidierten ihr Weltbild und verstanden plötzlich, im falschen Leben ist nichts richtig. Man musste nichts von Adorno wissen, um das ganz tief in sich zu fühlen. Dann Protestchen hie und da, die aufflammten - wie eben beschrieben. Fremde Erde für unsere Jahrgänge, für uns Kinder der Achtziger und Jugendliche der Neunziger. Und nun dieses Ding, dieses weltumspannende Okkupieren, diese Rückkehr der Utopie - und wir fühlen uns wie Strickpullovierte beim Anti-AKW-Protest.
Für uns ist das irgendwie schwer; ich glaube, meine Generation blickt erst verstohlen um sich, bevor sie sich protestierend dagegenstemmt. Eigentlich müsste sie von der Generation nach uns, die diese zögerliche Protestchen-Kultur des angehenden Jahrtausends in ihrer Sozialisierungsphase erlebte, da wir bereits asozialisiert waren... eigentlich müsste diese jüngere Generation uns an der Hand nehmen, uns leiten. Uns hat man den Geist des Unmuts aus dem Leib gezüchtet; wir sind zu Ja-Sagern erzogen worden. Wir müssen erst lernen, wie das so ist, wenn man gut sichtbar die Schnauze voll hat.