Wir graben und graben

11-080

Wenn die Quelle tief genug ist, wird das Wasser strömen.

Ein schöner Metapher. Da kommen mir viele Erlebnisse dazu in den Sinn. Als ich in Cotosi lebte (in den Bergen Boliviens), habe ich die Hänge nach einer Quelle abgesucht, um das Wasser umzuleiten. In Coaba (auch in den Anden) wurde ein Kanal gegraben, der das Wasser von einem fernen Bach in die Nähe brachte. Auf dem Altiplano versuchten wir mit Bohrungen an das Grundwasser zu kommen. Wenn man genug Aufwand betrieben hat und vor allem den richtigen Aufwand, dann hatte man gewisse Chancen, dass das Wasser danach strömte.

Das Sprichwort meint wohl zum Beispiel: Wenn wir genug lange eine Sprache gelernt haben, dann werden unsere Worte strömen. Oder: Wenn wir uns tief genug in eine schwierige Materie versenkt haben, so sprudeln irgendwann unsere Erklärungen bei allen erdenklichen Fragen.

Aber, wie so oft bei solchen Sprüchen, gibt es auch hier eine Kehrseite: Denn es kann auch sein, dass die Quelle sehr tief ist, und das Wasser doch nicht strömt. Dazu kommen mir zwei Gegenteilige Weisheiten in den Sinn:

„Wenn jemand einen Monat in einem fremden Land gelebt hat, schreibt er zuhause ein Buch darüber. Wenn jemand ein Jahr in einem fremden Land war, so schreibt er noch einen Artikel. Wenn jemand zehn Jahre im fremden Land war, so schreibt er gar nichts mehr, denn er hat das Gefühl, alles was man darüber sagt, stimmt irgendwie, aber irgendwie stimmt es auch nicht.“

„Wenn jemand einen kleinen Kurs in einem Gebiet gemacht hat, so macht er sich überall mit seinem Wissen wichtig. Wenn jemand aber eine wirklich große Fachperson in dem Thema ist, so wird er wie Sokrates verlegen sagen: Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Im Zen Buddhismus gibt es den Begriff „Anfängergeist“. Auch der fortgeschrittene Schüler, ja selbst der Zen Meister übt sich in einem mentalen Zustand der ständigen Neugier, des Nicht-Wissens und der Offenheit.

Erlebt einer sich selbst (nur) als sprudelnde Quelle, so wird anderes Wasser große Schwierigkeiten haben, zu ihm zu kommen.

In einem NLP Seminar habe ich auch den Begriff „Kenne-ich-schon-Trance“ kennengelernt. Das ist jener abwesende, etwas schläfrige Zustand in welchen die Leute kommen, welche zum Beispiel in einem Vortrag das Gefühl haben, sie würden diese Inhalte schon kennen. Diese Trance verhindert wirkungsvoll das Hinzulernen von neuen Dingen.

Und so ist es dann ein kleines Kunststück, ganz tief nach Wasser zu graben und doch im Anfängergeist zu verharren.


Hinter dem Jagdhaus / 29cm x 21cm / Acryl auf Zeichenpapier / 2011, Nr. 11-080
Hinter dem alten Jagdhaus im Wald ist eine kleine Quelle. Dort braucht man nicht zu graben, sondern man steht einfach staunend davor und erlabt sich dann.



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