Wir brauchen mehr Helden! (To kill a mockingbird)

Wir brauchen mehr Helden! (To kill a mockingbird)

To kill a Mockingbird (1960), Harper Lee

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich schonmal so lange an einem Buch gelesen habe. Ich habe "To kill a mockingbird" angefangen, als ich im November nach Berlin gezogen bin und seitdem - in kleinen Dosen - immer mal wieder ein paar Seiten gelesen. Dabei ist das Buch mit 300 Seiten wirklich nicht besonders dick. Ich bin mir gar nicht sicher, woran es liegt, dass ich so lange gebraucht habe. Vielleicht weil es mir anfangs schwerfiel, in die Geschichte einzusteigen. Und doch hat mich dieses Buch so beeindruckt, wie schon lange keins mehr. Ich mag Geschichten, aus denen ich mir Grundsätze mitnehmen kann und ich habe einen neuen Helden: Atticus Finch.
Zur Story
Harper Lee hat hier keinen spannungsgeladenen Thriller geschrieben, sondern einen authentischen Einblick in die Gedankenwelt einer Kleinstadt in den Südstaaten der USA Anfang der Dreißiger Jahre. Wie in jeder kleinen Stadt kennt hier jeder jeden, es wird geklatscht und getratscht und die Menschen sind so in ihre Vorurteile eingewickelt, dass es Ihnen schwerfällt, über den Tellerrand zu schauen. Hinzu kommen hier allerdings noch unverhohlener Rassismus und lange anerzogenes Standesbewusstsein. In dieser Gesellschaft ist es nahezu unmöglich, nach anderen Prinzipien zu leben. Atticus Finch allerdings schafft es, stets nach seinen moralischen Grundsätzen zu handeln. Als Anwalt und Mitglied einer angesehenen Familie kann er sich das so lange erlauben, bis er die Verteidigung eines Mannes annimmt, dessen Schuld von Anfang an feststehen muss - denn es gilt das Wort schwarz gegen weiß. 
Meine Meinung
Das Buch wird aus der Sicht der achtjährigen Tochter von Atticus Finch erzählt. Mit der Wahl dieser Erzählstimme ist Harper Lee etwas gelungen, was anders schwerlich möglich gewesen wäre: die Idiotie erwachsener Menschen mit schonungsloser Ehrlichkeit aber gleichzeitig frei von Bösartigkeit zu portraitieren. Durch die Kinderstimme habe ich allerdings ziemlich lange gebraucht, um in die Geschichte hineinzufinden, denn Harper Lee kann sich fast ein wenig zu gut in die Gedankenwelt eines kleinen Kindes versetzen und es gibt einige Szenen, die sich meiner Meinung nach am Anfang ziemlich in die Länge ziehen.
Scout Finch, deren eigentlichen Namen Jean Luise fast nie jemand benutzt, sieht mit kindlicher Naivität zu, wie ihr Papa in immer größere Gefahr gerät - ohne zu verstehen, was eigentlich vor sich geht. Für sie ist es selbstverständlich, dass ein Mann, der offensichtlich unschuldig ist von der Jury freigesprochen wird - selbst wenn er schwarz ist. Als das nicht geschieht, versteht sie die Welt nicht mehr. Ihrem Vater dagegen ist vollkommen bewusst, dass er sich mit der Verteidigung eines schwarzen Mannes, und sei er noch so unschuldig, gegen einen Weißen - selbst wenn dieser als Alkoholiker und brutaler Tunichtgut bekannt ist - den Hass einer Menge Menschen zuzieht. Atticus Finch tritt den Kampf gegen die Irrationalität und Ungerechtigkeit seiner Gesellschaft mit den ihm eigenen Waffen an; stoische Gelassenheit und eiserne Höflichkeit. Und dieses leise, sanfte aber unerbittliche Festhalten am Guten ist es, was die ganze Geschichte so eindrucksvoll macht. 

"I wanted you to see what real courage is, instead of getting the idea that courage is a man with a gun in his hand. It's when you know you're licked before you begin but you begin anyway and you see it through no matter what. You rarely win, but sometimes you do."

Atticus Finch ist sich bewusst, dass er die Menschen nicht ändern kann. Und es gelingt ihm, die Menschen dafür nie zu verurteilen. Aber er selbst muss sich ihnen deshalb noch lange nicht anpassen und er achtet darauf, dass es auch seine Kinder nicht tun.

"Do you defend niggers, Atticus?" I asked him that evening.
"Of course I do. Don't say nigger, Scout. That's common."
"'s what everybody at school says."
"From now on it will be everyody less one."
Neben einer ganzen Menge zitationswürdiger (ist das ein Wort? Das ist doch kein Wort, oder?) Aussprüche und Dialoge hat Harper Lee aber auch sehr feine, sehr ironische Charakterstudien einfließen lassen, umso schärfer, da sie aus dem Mund eines unbedarften Kindes stammen.

"True enough, Miss Maudie had an acid tongue in her head, and she did not go about the neighbourhood doing good, as did Miss Stephanie Crawford. But while no one with a grain of sense trusted Miss Stephanie, Jem and I had considerable faith in Miss Maudie."

Die beeindruckendste Szene
Die für mich mit Abstand beeindruckendste Szene ist die, als Scout und ihr Bruder Jem unbewusst in eine hochgefährliche Situation platzen. Es ist der Abend vor der Verhandlung und Atticus hat sich wohlweislich vor der Zelle seines Mandanten postiert, falls einige Stadtbewohner es sich in den Kopf gesetzt haben sollten, der Verurteilung schon mal zuvorzukommen. Während Atticus nun als einzelner Verteidiger einem wütenden, bewaffneten Mob gegenübersteht, läuft Scout zu ihrem Vater - mitten hinein in die aufgebrachte Menge. Verwirrt von der aggressiven Stimmung um sie herum und davon, dass niemand der Erwachsenen mit ihr spricht, macht sie höflich Konversation. Vollkommen aus dem Konzept gebracht von dieser personifizierten Unschuld mitten in ihrem Schlägervorhaben kommen die Männer schließlich zu Sinnen und die Situation entgeht gerade noch der Eskalation. Eine sehr, sehr starke Szene, die mir einfach nicht mehr aus dem Kopf geht.
...und eine Portion Südstaatencharme.
Neben all den moralischen Lektionen die Harper Leee zu bieten hat, hat die Geschichte aber vor allem auch durch ihr Südstaatensetting mein Herz gewonnen. Keine Ahnung, ob hier überzogen mit Stereotypen gespielt wird, aber es gibt alles, was man von einer ordentlichen Südstaatengeschichte erwartet: Die snobistischen Southern Belles, die sich zu selbstgemachten Köstlichkeiten auch die neuesten Gerüchte auftischen. Die fanatischen Kirchenmänner, die sogar in der Pflege eines schönen Gartens Anzeichen der Sünde erkennen. Und die toughe schwarze Haushälterin, die in wunderbar authentischem Slang -zumindest gehe ich davon aus, dass es authentisch ist, ich war ja nie dort! - den Kindern ihres Haushalts einimpft, was Südstaaten Gastfreundlichkeit bedeutet.  (In dieser Szene hat Scout gerade einen Klassenkameraden mit nach Hause gebracht, dessen Familie bekanntermaßen nicht viel Geld und kaum etwas zu essen hat. Nachdem dieser sich beim Essen nicht wirklich nach Scouts Auffassung von Tischmanieren benommen hat, beginnt sie ihn auszulassen - wird allerdings von Haushälterin Calpurnia streng zurecht gewiesen. Es entspannt sich der folgende Dialog, den sich auch jeder Deutsche einmal sehr genau durchlesen sollte. Mit Gastfreundlicheit ist es nämlich hier auch oft nicht fürchterlich weit her.)
"There's some folks who don't eat like us." she whispered firmly, "but you ain't called on to contradict them at the table when they don't. That boy's yo' Comp'ny and if he wants to eat up the table-cloth you let him, you hear?" "He ain't company, Cal, he's just a Cunningham -" "Hush your mouth. Don't matter who they are, anybody sets food in this house's yo' comp'ny, and don't you let me catch you remarkin' on their ways like you was so high and mighty! Yo' folks might be better'n the Cunninghams but it don't count for nothin the way you're disgracin' 'em."
Fazit
Mit Verständnis und eiserner Höflichkeit gegen Engstirnigkeit und Blödheit - wir sollten uns alle ein Beispiel an Atticus Finch nehmen! 


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