Vor 4 Tagen berichtete die Presseagentur AFP hier, Jane Austen, oftmals Paradebeispiel im englischen Literaturkanon, sei nicht die große und absolut präzise Stilistin gewesen, als die sie noch heute gefeiert wird. Was auf den ersten Blick nur als kleine, eher unwichtige Meldung wirkt, wirft mir eine Frage auf, die ständig diskutierte Frage nach der Bedeutung eines Literaturkanons.
Sollte ein Literaturkanon nicht nur Werke enthalten, die sich neben anderen Eigenschaften durch eine qualitative Hochwertigkeit auszeichnen. Warum sollte nun eine Frau darin stehen, deren Manuskripte offensichtliche, gravierende Fehler aufweisen? Dabei mal Jane Austens sicher unbestrittene Größe außer Acht, wer hat das Recht, jemanden in den Literaturkanon zu befördern oder ihn zu streichen?
Grund für mich, ein älteres Essay wieder rauszuholen:
Wir brauchen (k)einen Literaturkanon!
„Man braucht keinen Lesekanon, um auf der Erde zu überleben! Wozu sollte er dann unbedingt notwendig sein? Bevormundung bei der Bücherauswahl führt bloß zu Lesedesinteresse!“
So klingen sie fast alle, die Forenbeiträge und Rezensionen im Internet, Meinungen von Menschen, die täglich die verschiedensten Texte lesen und es eigentlich wissen müssten.
Experten halten dagegen, sagen, nur erfahrene Leser könnten für alle verbindliche Werke auswählen. Heinz Schlaffer, seines Zeichens Professor für Literaturwissenschaften, geht sogar noch ein Stückchen weiter, indem er behauptet, nur die belesene, kompetente Nachwelt dürfe entscheiden, was ästhetischer Gegenstand der Literaturgeschichte ist und was nicht. Im Zentrum der Gedanken von uns, der Nachwelt, könnte zum Beispiel Hesses „Siddharta“ stehen. Einerseits leistet dieser Roman einen großen Teil zum Verständnis der Weltreligionen. Andererseits ist dieses Wissen auch anderweitig erlernbar und die dargelegten Weisheiten zu individuell formuliert und nicht umsetzbar. Meiner Meinung nach kein verpflichtendes Buch, aber wer entscheidet das?
Die Zusammenfassung qualitativ hochwertiger Werke, die zeitlose Themen global behandeln und zudem sprachlich hervorragend gestaltet sind, nennt man Literaturkanon. Seit die Idee eines solchen Kanons im 17. Jahrhundert erstmals aufkam, wechselten die darin enthaltenen „herausragenden“ Bücher ebenso wie die Leute, die sie bestimmten. Der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern vergrößerte sich.
Aber brauchen wir einen Literaturkanon? Bedeutet keinen Kanon zu haben tatsächlich den von Marcel Reich-Ranicki beschworenen „Rückfall in die Barbarei“?
Fakt ist, dass ein Literaturkanon sich als positiv erweisen kann. Immerhin stellt Literatur Allgemeinbildung dar und vermittelt sogar selbst einprägsam Wissen und im Zusammenleben wichtige Werte. Dazu kommt, dass niemand, egal wie exzessiv er lebt, alle Erfahrungen selbst machen kann und das Lesen von Büchern somit den „eigenen Horizont“ drastisch erweitert.
Trotzdem bleiben alle Erfahrungen aus Büchern fiktiv. Bloß die Erfahrungen, die man während des Lesens macht, die aufkommenden, manchmal überwältigenden Gefühle und die Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, sind real. Umso mehr wollen wir uns natürlich die Bücher, die uns diese Erfahrungen geben, selbst auswählen und unabhängig bleiben. Wie sonst könnte die Literatur so frei, vielfältig und schön bleiben wie sie ist, wenn sie uns vorgeschrieben wird wie bittere Medikamente bei einer schweren Krankheit? Man darf nicht vergessen, dass gerade das individuelle Entdecken faszinierender Bücher einen großen Teil des Reizes der Literatur ausmacht.
Ich persönlich halte einen Kanon für sehr sinnvoll, wenn er eine Bücherempfehlung derer, die sich auskennen und lange damit beschäftigt haben, darstellt. Deswegen ende ich mit einem Zitat Robert Fajens: „Ein Kanon ähnelt in gewisser Weise einem Kompass: Seine Nadel zeigt beständig nach Norden, doch muss dies nicht die Richtung sein, die man einschlägt.“