Wir brauchen einen Corona-Untersuchungsausschuss

Zu sagen, dass die Corona-Krise einige Lücken in der Pandemie-Vorbereitung dieses Landes offen gelegt hat, ist ungefähr so wie festzustellen, dass ein Sieb nicht unbedingt der beste Behälter für Flüssigkeiten ist. Leider ist eine Debatte über Versäumnisse der Vergangenheit inmitten einer laufenden Pandemie in etwa so hilfreich wie eine Aufarbeitung der Verteidigungspolitik für die Vierte Republik im Juni 1940. Ja, es wurden Fehler gemacht, und nein, jetzt ist nicht die Zeit, sie lang und breit zu diskutieren. Dass sie aber diskutiert werden müssen - lang und breit - darüber bestehen in einer Demokratie wohl hoffentlich keine Zweifel. Meine Idee ist deswegen die folgende: Wir richten einen Untersuchungsausschuss ein. Schön paritätisch mit Mitgliedern aller Parteien. Und der unternimmt es, auf allen Ebenen die Vorbereitung aufzuarbeiten - was geklappt hat, was nicht geklappt hat, was man unterlassen hat. Und am Ende steht dann ein großer Abschlussbericht.

Form

Meine Hoffnung wäre zweierlei.
Zum Einen soll das Ganze Struktur in die Sache bringen. Einzelne Abgeordnete können sich auf bestimmte Themenfelder konzentrieren, die mit ihrer persönlichen Expertise korrespondieren. Die Juristen könnten die Gesetzgebung auf den Prüfstand stellen, beispielsweise. Gerade dieses Feld hat den Vorteil, dass es sich wegen der jahrzehntelang gewachsenen Strukturen einer simplen Schuldzuweisung ohnehin entzieht. Im Idealfall stünde hier am Ende ein kohärentes Reformprogramm der Pandemie-Gesetzgebung, hinter dem möglichst viele Parteien stehen. Realistischerweise zumindest mal die CDU, SPD, FDP und Grünen.
Diese klaren Zuständigkeiten könnten dafür sorgen, dass am Ende ein substanzieller Bericht steht, der dann die Grundlage für eine letztlich überparteiliche Reform der Pandemievorsorgegesetze stellt. Letztlich ist die eigentliche Pandemievorsorge ja kein Thema, das sich hervorragend für Wahlkampf eignet. Mir wäre jedenfalls nicht bekannt, dass die Menge der eingelagerten Getreidevorräte für große Kontroversen im Bundestag gesorgt hätte.
Zum anderen tagen Untersuchungsausschüsse größtenteils hinter verschlossenen Türen, so dass nicht jeder Schritt der jeweiligen Abgeordneten sofort in die öffentliche Selbstdarstellungsschiene gerissen wird. Sacharbeit wird am ehesten in den Ausschüssen geleistet, sie haben ein gewichtiges und gern genutztes Mitspracherecht an der Gesetzgebung. Warum betone ich den Aspekt der verschlossenen Türen? Jedes Gremium, das die Pandemievorsorge verbessern und dabei einen überparteilichen Konsens erreichen soll, muss zwangsläufig aus dem politischen Kommunikationsprozess (Wahlkampf und Selbstdarstellung) herausgehalten werden.
Das geht nur durch einen abgekapselten Prozess. Wenn in der BILD jeder Vorschlag vorliegt und die dann eine Kampagne führt - und das wird sie, wenn sie die Chance hat - dann geht das komplette Ding sofort den Bach runter. Dasselbe gilt, wenn Leute wie Laschet die entsprechenden Schritte in der Öffentlichkeit live kommentieren. Und das müssen sie, sobald die Dinger öffentlich werden, weil die Medien ihrer Funktion nachkommend die Spitzenpolitiker um Stellungnahmen bitten und die, ihrer Funktion nachkommend, sie gewähren werden.
Es ist daher auch sinnvoll, den entsprechenden Zeitrahmen einer solchen Institution auf die Zeit nach der Bundestagswahl 2021 zu legen. Die eigentlichen Verantwortungsträger, allen voran Merkel und Altmaier, werden dann voraussichtlich nicht mehr an der Regierung sein, sondern ihre Memoiren schreiben, in denen ihre heldenhafte Rolle herausgestrichen wird. Das befreit den entsprechenden Bericht vom Problem, die Regierungschefin schützen zu müssen.
Bei der Wahl des Kriteriums sind wir auch nicht auf einen Untersuchungsausschuss festgelegt, das ist letztlich nur ein Beispiel. Es ist möglich, dass der Vermittlungsausschuss die Hauptaufgabe übernimmt, schließlich muss das folgende Gesetzeswerk eh eng mit den Ländern abgestimmt und im Bundesrat verabschiedet werden. Letzteres macht auch die Beteiligung der vier genannten Parteien notwendig, denn wegen der starken Partikularisierung der Landesregierungen hat keine "normale" Koalition eine Chance auf eine Mehrheit im Bundesrat. Die Zustimmung der jeweiligen anderen Parteien, zumindest mancher ihrer Landesverbände, ist absolut notwendig.

Erwartungen

Es ist aktuell noch nicht wirklich möglich, genau zu sagen, wo alle Problemfelder liegen. Aber manche sind definitiv bereits aufgetaucht und sollen hier kurz angerissen werden. Die Kommentatoren seien gerne dazu aufgefordert, meine Versäumnisse aufzufüllen.

Schutzmaterial

Ich denke der offensichtlichste Faktor ist das Vorhalten von Schutzmaterial, vor allem Masken und Schutzkleidung, aber auch die Fähigkeit, die Produktion von medizinischem Gerät schnell hochfahren zu können. Masken und Kleidung sind der weniger problematische Teil; hier können die Krankenhäuser zu größerer Vorratshaltung verpflichtet werden, da das Material dort ja auch laufend gebraucht wird und so beständig ersetzt werden kann. Zentrale Lager scheinen da eher kontraproduktiv zu sein. Bezüglich der Vorsorge für die Bevölkerung können einfache Masken vorrätig gehalten werden. Hier kann man sich an den Erfahrungen der asiatischen Länder orientieren, die das ja wohl ganz gut hinbekommen.
Die Produktion von Gerät, wie im Fall von Covid-19 Beatmungsgeräten, ist schwieriger. Hier macht es unter Umständen Sinn, durch Gesetze eine schnelle Freigabe der Blaupausen und eine Produktionsanweisung an Industriebetriebe zu geben, aber ich habe keine Ahnung, wie realistisch das ist. Vermutlich eher nicht sonderlich, aber wenn jemand mehr weiß, gerne mehr. Was in jedem Falle nicht funktioniert sind Lieferverträge. Großbritannien hatte seine Pandemievorsorge durch Lieferverträge mit Firmen in China abgedeckt, und man kann sich vorstellen, was als Nächstes passiert ist...

Rechtliche Lage

Es ist offensichtlich nötig, die rechtlichen Einschränkungen von Kontakten rechtssicher zu machen. Da schlägt die große Stunde der Juristen. Das ist eine wahre Mammutaufgabe, die einen konzertierten Aufwand erfolgt, der der Einführung der Notstandsgesetzgebung 1968 oder dem Asylkompromiss 1993 in Nichts nachsteht. Wie das am Ende aussieht weiß ich nicht und ist mir auch egal, aber die Debatten der vergangenen Wochen haben gezeigt, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.
Gleiches gilt für die Zuständigkeiten von Bund, Ländern, Kreisen und Gemeinden. In meinen Augen hat sich gezeigt, dass der Föderalismus in der Krise sich nicht bewährt hat (andere mögen hier anderer Meinung sein) und dass der Bund größere Kompetenzen braucht. Es ist vollkommener Unsinn, dass sechzehn Bundesländer unterschiedliche Wege gehen, wenn eine globale Pandemie herrscht. Mindestens ein verbindliches Koordinationsgremium der Länder selbst gehört auf jeden Fall eingerichtet.
Ein letztes Problemfeld das ich hier ansprechen möchte ist mit einem folgenden Punkt, der Digitalisierung, verbunden. Die viel kritisierten deutschen Datenschutzrichtlinien erwiesen sich in der Pandemie als gewaltiger Bremsklotz. Gerade in den Schulen liefen alle Beteiligten permanent gegen Wände. Leistungsfeststellungen sind außer im Präsenzverfahren unmöglich, Übermittlung von Informationen kaum rechtssicher möglich. Schulen dürfen nicht einmal Microsoft Office nutzen! Dieser Irrsinn muss endlich aufhören.

Sozialstaat

Ein Feld, auf dem Deutschland bereits verhältnismäßig gut aufgestellt ist und auch hervorragend schnell reagiert hat, war die Absicherung derer, die vom lockdown betroffen waren. Wie bereits 2008/2009 hat sich das Kurzarbeitergeld sehr bewährt; hier wäre darüber nachzudenken, die teilweise branchenintern erfolgte Ausweitung auf 80% des letzten Gehalts (statt 67%) dauerhaft zu verankern, weil viele Familien nicht in der Lage sein dürften, nur mit Kurzarbeitergeld längere Zeit zu überstehen.
Problematischer war die Hilfeleistung für Selbstständige. Zwar gab es eine sicherlich enorm hilfreiche, unbürokratische Hilfeleistung von 5000 Euro pro Kopf, aber generell fielen sehr viele Selbstständige aus dem Raster der Hilfsmaßnahmen heraus und waren die Hilfsstrukturen zu langsam und bürokratisch. Hier wäre vermutlich ein Ansatz des schnellen Abrufens von Geldern besser. Letztlich kostet es den Staat weniger, den Selbstständigen ein bisschen zu viel Geld zu bezahlen und dafür viele Unternehmen zu retten als zu sehr auf die Berechtigung zu achten und darüber den Untergang eigentlich zugangsberechtigter Unternehmen in Kauf zu nehmen.

Digitalisierung

Ein weiteres Feld, auf dem sich klare Defizite gezeigt haben, ist die Digitalisierung. Home Schooling und Home Office waren in weiten Teilen wenn nicht unmöglich, so doch stark beeinträchtigt. Die mangelhafte digitale Infrastruktur brach in weiten Teilen ein und ist nicht in der Lage, die entsprechenden Videokonferenzen zu stemmen. Auch ist die Ausstattung mit Endgeräten katastrophal.
Dies wird besonders im Bildungsbereich deutlich, wo alles mit völlig mangelhaften Strukturen vor sich hinwurstelt. Dazu bestehen praktisch keine didaktischen Konzepte jenseits des Fernunterrichts. Von den juristischen Strukturen brauchen wir gar nicht erst zu reden. Hier ist wahnsinnig viel Nachholarbeit zu leisten. Verantwortlich sind die Länder. Und die haben sich in der Krise bisher ziemlich blamiert.

Wer bezahlt es?

Ich habe im letzten Vermischten habe ich angesprochen, dass es mehrere Möglichkeiten gibt, sowohl die Lasten der Krise selbst als auch die Kosten der Vorsorgemaßnahmen zu schultern. Ich zitiere noch mal:
Bereits zu Beginn der Corona-Krise gab es ja einige spannende Diskussionen um einen Lastenausgleich 2.0. Angesichts der krassen Ungleichheit der Belastung fände ich das ein grundsätzlich valides Konzept. Schließlich sind manche Branchen tödlich betroffen, während andere einfach weiterarbeiten können. Dasselbe gilt für die Arbeitnehmer: Ich kann im Home Office bei vollem Gehalt weitermachen, während manche Selbstständige einfach gar nicht arbeiten können und ihr Einkommen auf null reduziert sehen. Es ist daher durchaus fair, nachher zu schauen, wer in der Krise relativ gut durchgekommen ist und wer nicht und entsprechend eine Abgabe zu machen. Ein Problem könnte halt analog zur Vermögenssteuer sein, dass das so komplex ist, dass es den Aufwand nicht lohnt. Andernfalls ist das Ignorieren sicherlich auch eine gut mögliche Option, vorausgesetzt, die Rezession bleibt V-förmig. Das hat für die Kosten der Finanzkrise ja auch gut geklappt. Die Risiken sind hier natürlich auch vorhanden, aber angesichts der grundsätzlichen Stärke der deutschen Volkswirtschaft überschaubar. Und zuletzt bliebe natürlich auch die Option, die EZB zu reformieren und die Finanzierung analog zur britischen Notenbank einfach direkt übernehmen zu lassen, aber da wird Deutschland sich sicherlich querstellen (vergleiche Fundstücke 6 und 8).
Zwar waren manche Kommentatoren der Überzeugung, eine solche Diskussion sei typisch linke Traumtänzerei, aber ich bleibe dabei, dass es eher eine altehrwürdig-liberale Fragestellung ist. Wie wird am Ende für alles bezahlt? Für mich steht außer Frage, dass eine Krise, die alle betrifft, auch von allen getragen werden muss, und dass eine Krise, die zufällig manche wesentlich stärker als andere betrifft, von letzterer Kategorie in besonderem Maße geschultert werden muss. Oder eben über alternative Finanzierungsmodelle. Aber ganz sicher halte ich es nicht für akzeptabel, nachher Hartz-IV zu senken um die Krisenkosten zu finanzieren oder so was. Und das bereits jetzt zu diskutieren halte ich für absolut angemessen.

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