Von Stefan Sasse
Kalifornien steht vor dem Bankrott. In Colorado werden Straßen abgerissen und Beleuchtungen nachts ausgeschaltet, weil Geld für die Wartung fehlt. In Detroit können Müllabfuhr und Lehrer nicht mehr bezahlt werden. In einer amerikanischen Kleinstadt in Tennessee brennen Häuser nieder, weil die Bewohner den Selbstbehalt der Feuerwehr nicht bezahlen können. Dem amerikanischen Sozialsystem, löchrig wie es ist, fehlen Milliarden. Die Gefängnisse laufen über. Und dabei sind die USA nur ein besonders plakatives Beispiel für eine Entwicklung, die alle Industriestaaten ergriffen hat. Der Staat ist immer weniger in der Lage, selbst elementaren hoheitlichen Aufgaben nachzukommen.
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In Deutschland ist die Entwicklung - noch - subtiler spürbar, etwa in der schlechten Winterräumung, in der Teuerung von Energie und Wasser, der langsam erodierenden Gesundheitsversicherung, den Rentenkürzungen und der zunehmenden Zahl an Obdachlosen. Diese Entwicklung ist eine Konsequenz des Rückzugs des Staates aus dem Alltagsleben, Konsequenz einer starken Beschneidung von Etats und Kompetenzbereichen unter dem Verdikt, dass die Bürger ihre Steuergelder am besten selbst verwalten und die Wirtschaft ohne staatliche Einmischung am stärksten boomt.
Dieses Verdikt, man kann es nur so sagen, hat in die Irre geführt. In praktisch allen entwickelten Ländern geht es den Bürgern schlechter als noch vor 30 Jahren. Die Lebensqualität ist drastisch gesunken. Hilflos stehen die Staaten einer Finanzkrise gegenüber, die sie mit ihren verkrüppelten Kompetenzen nicht mehr eindämmen können. Ihre Arme wurden gefesselt und gebunden, und die Staaten bedanken sich auch noch dafür und denken, dass es das beste wäre. Millionen von Jobs sind entstanden, die so schlecht bezahlt sind, dass die Menschen, die sie in Vollzeit ausführen, nicht davon zu leben in der Lage sind. Alleine in Deutschland beträgt ihre Zahl deutlich über drei Millionen.
Das Grundversprechen unseres Gesellschaftssystems, dass jeder, der fleißig arbeitet, auch gut leben kann, wird nicht mehr eingelöst. Die Betrogenen halten ihren Teil der Abmachung jedoch noch gutwillig ein: die Reichen dürfen ihr Geld behalten, niemand will es ihnen wegnehmen. Noch nicht.
Der Zustand einer kleinen Gruppe, die sich auf Kosten der Mehrheit bereichert, kann nicht ewig anhalten. Vor rund anderthalb Jahren flackerte in Deutschland eine Debatte um "soziale Unruhen" auf. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass diese unser geringstes Problem sind. Brennende Autos und sich der Kontrolle des Staates entwindende, in gewalttätiger Anarchie versinkende Vorstädte bleiben vorerst ein Problem, das wir gebannt und wohlig schaudernd in Fernsehberichten über Frankreich beobachten können. Die Gefahr ist vielmehr, dass das Land in Apathie versinkt, dass der kalte Hass gegen Minderheiten weiter zunimmt und in immer mehr juristischer und faktischer Ausgrenzung immer größerer Teile mündet. Die Gesellschaft löst sich immer weiter auf, schon jetzt bröckelt der Kitt, der sie zusammenhält, mehr und mehr: Einheimische gegen Migranten, Arbeitende gegen Arbeitslose, ALG-I-Empfänger gegen ALG-II-Empfänger, Alte gegen Junge, Arbeiter gegen Angestellte, Angestellte gegen Beamte - wo man hinsieht wird der Neid und Hass der Gruppen aufeinander geschürt, bricht systematisch das Bewusstsein weg, dass wir ein Volk sind, eine Gesellschaft, durch das Versprechen auf allgemeinen Wohlstand aneinandergebunden zum Nutzen aller. Wunderland ist abgebrannt.
Doch es gibt eine Alternative. Das kollektive Versagen des Staates beruht auf einer Selbsttäuschung, der Selbsttäuschung nämlich, dass wir - wir der Staat - nicht handeln könnten, weil die Zwänge der Wirtschaft, der Globalisierung und vielleicht, um mit Goldman Sachs zu sprechen, Gottes Wille dem entgegen stehen. Nationale Alleingänge seien nicht möglich, wird gebetsmühlenhaft erklärt, während Merkel sich gleichzeitig daran macht in einem nationalen Alleingang Europa zu vernichten, jenen weiteren Gesellschaftsentwurf, der den innereuropäischen Krieg - Normalzustand für Jahrhunderte - zu einem kaum erinnerten Gespenst gemacht hat. Es ist bequemer, den alltäglichen Mangel zu verwalten und je nach Klientelgruppe mal hier-, mal dorthin zu verlagern als den Ausbruch zu wagen. Ja, der Ausbruch kann schiefgehen. Radikale Lösungen bergen stets die Gefahr eines radikalen Scheiterns. Zu unserem Glück ist der Ausweg aus dem jahrelangen Siechtum, in dem unsere Gesellschaft dahinvegetiert, gar nicht so radikal wie das den Anschein hat.
Der Ausweg besteht darin, die Fesseln abzuwerfen, die wir uns selbst auferlegt haben und den Einflüsterungen der Krankmacher zu widerstehen. Der Staat ist nicht so unfähig, nicht so gehemmt, nicht so machtlos wie dies den Anschein hat. Er ist, vor allem, alternativlos. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass ohne eine starke Rolle des Staates blankes, anarchisches Chaos herrschen wird, in dem die Stärksten alle Schwachen rücksichtslos in den Staub treten. Es liegt in der Natur der Sache, dass es immer weniger Starke als Schwache geben wird. Die erste und wichtigste Aufgabe des Staates war und ist jedoch, die Schwachen vor den Starken zu schützen. Früher betraf dies die sich befehdenden Adeligen, dann Übergriffe anderer Staaten. Es ist die zentrale Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, dass nicht nur das blanke Überleben, sondern auch die Sicherung einer bestimmten Lebensqualität zu den Aufgaben des Staates gezählt wurden. Diese Errungenschaft wird derzeit wie ein Paket alter Lumpen fortgeworfen.
Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat. Er allein ist in der Lage, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen. Die letzten 30 Jahre haben den Versuch gesehen, dem Markt anstelle einer seelenlosen Bürokratie die Regulierung des alltäglichen Lebens zu überlassen. Er hat auf ganzer Linie versagt. Es wird Zeit, dass wir diese Aufgabe wieder in unsere Hände nehmen und uns erinnern, dass alle Macht vom Volke ausgeht. Wir sind der Souverän! Wir können nichts gegen "Markt" unternehmen, wenn er unser Leben kontrolliert, denn er ist per Definition eine Kraft, die über menschlichem Wirken steht, eine lenkende, unsichtbare Hand, die Gottheit der Moderne. Eine Bürokratie, von Menschen gemacht, muss fehlbar sein, das ist sicher. Aber sie zieht ihre ganze Legitimität aus der Tatsache, dass die Menschen ihr die Macht freiwillig gegeben haben. Das macht sie unendlich stärker, sicherer und wandlungsfähiger als die Idee des alles beherrschenden und lenkenden Marktes. Lasst uns dem Markt endlich wieder Zügel anlegen! Lasst ihn uns unseren Befürfnissen formen, anstatt uns ihm zu unterwerfen! Formen wir einen Staat nach unseren Bedürfnissen als Werkzeug der Wahl.
Wir müssen ihn handlungsfähig machen. Dazu bedarf es der Abschüttelung der Kosten, die ihn derzeit wie Ketten zu Boden ziehen. Erhebt Steuern auf Vermögen und Spekulation, auf Kapitalverschiebung und -akkumulation. Seit 30 Jahren warten wir auf die Einlösung des Versprechens, dass, wenn wir denen geben die haben, schon etwas für uns dabei herauskommen würde. Holen wir uns endlich, was uns gehört. Es ist gar nicht so viel, das wir nehmen müssen. Es ist sogar so wenig, dass wir auch wieder geben können. Mindestlöhne, vernünftige Spitzensteuersätze und Steuern auf anstrengungslose Kapitalrenditen werden die Handlungsfähigkeit wieder herstellen. Das Versprechen, dass, wer arbeitet auch von den Früchten seiner Arbeit leben kann, muss erneuert und eingehalten werden. Dies kann nur vollständig funktionieren, wenn andere Staaten ebenfalls mitziehen. Es ist aber keine Voraussetzung für einen Grad an Erfolg. Wir sind die drittstärkste Volkswirtschaft der Welt. Wenn wir den Anfang machen, muss das Signal- und Vorbildwirkung haben. Es gibt andere Länder, die nur auf so ein Signal warten. Wir müssen dafür arbeiten, dass es Erfolg haben kann.
Ein Staat aber, der seine Aufgabe im Wohl all seiner Bürger sieht und nicht nur im Wohl derer, die in der Lebenslotterie das große Los gezogen haben, hat auch eine höhere Legitimation. Wir können nicht so tun, als würde es Allheilmittel sein, die Rettung der Gesellschaft einer kleinen Gruppe zu überlassen. Es gehört die Arbeit eines jeden Einzelnen dazu, den Volksvertretern wieder auf die Finger zu sehen und eine Meinung zu haben, sich zu informieren und für dieses Ziel einzutreten. Es kann nicht damit getan sein, alle vier Jahre per Kreuzchenmachen eine Gruppe Menschen loszuschicken, die Erlösung in Parlamentsdebatten und Majoritätsbeschlüssen zu finden. Es braucht unsere Mitarbeit und kritische Begleitung. Und es braucht unser Vertrauen. Wir brauchen einen Staat, dem wir uns wieder anvertrauen können, einen Staat, dem wir nicht vollständig misstrauen oder den wir innerlich bereits aufgegeben haben. Wir müssen diesen Staat konstituieren, wir allein. Das ist eine Aufgabe, die uns niemand wird abnehmen können.