Wir behaupten das Gegenteil!

Von Modesty

Nicht nur Occupy ist ziemlich tot, auch die Arbeiterbewegung bewegt sich nicht mehr. Nicht, weil es keine Arbeiter mehr geben würde – die gibt es noch und immer mehr von ihnen müssen (wieder) für Hungerlöhne arbeiten. Aber es gibt kein Bewusstsein einer Arbeiterklasse mehr. Das Bewusstsein der Arbeitenden wird systematisch zersetzt, vergiftet, man redet ihnen ein, sie selbst seien an ihrer beschissenen Lage schuld und nicht etwa diejenigen, die sie als billiges Produktionsmittel benutzen, um sich mehr noch noch mehr Gewinn in die eigenen Taschen zu stecken. Es wird von einer klassenlosen Gesellschaft gefaselt und davon, dass jeder seines Glückes Schmied sei – aber was soll man denn schmieden, wenn man die Mittel nicht hat, wenn Hammer und Amboss dem Chef gehören. Und der bestimmt, wie und wann man sie zu benutzen hat.

Es ist heute fast wieder so, als habe es Marx und Engels nie gegeben, die mit ihren Analysen der Arbeiterklasse vor Augen führten, in welchem Maß sie ausgenutzt und betrogen wird. Mehr als 150 Jahre Arbeit und Auseinandersetzung einfach ausgelöscht. Mir begegnen immer wieder Leute, die behaupten, es gäbe doch heutzutage keine Ausbeutung mehr! Da frage ich mich, ob die in der gleichen Welt leben wie ich – in meiner Welt gibt es Niedriglöhner und Billigjobber, unterbezahlte Fachkräfte, arbeitslose Fachkräfte und auch solche, die man gegen eine so genannte Aufwandsentschädigung zwingt, ihren besser bezahlten Kollegen die Jobs streitig zu machen.

Ausbeutung wohin man sieht – nur in den Chefetagen, da schieben die sich gegenseitig die Kohle auf die Konten, dass einem schwindlig wird – klar, wenn man in der richtigen Branche den richtigen Job hat, da kann man schon mal auf die Idee kommen, dass es keine Ausbeutung mehr gibt – aber gleichzeitig muss gefragt werden, wo die ganze Kohle denn verdient wird, die sich die Besserverdiener einstecken. Mit Leistung hat das jedenfalls nichts zu tun.

Das bringt mich zurück zur Arbeiterklasse, die noch vor ein paar Jahrzehnten durchaus kapiert hat, was sie zu leisten im Stande ist und die immer und immer wieder ihren Anteil – auch gegen erbitterten Widerstand – daran gefordert hat. Nicht, dass Arbeitskampf und Streik früher auf Verständnis der Chefs und Direktoren gestoßen wäre – das gab es nie. Aber eine gewisse kämpferische Gesinnung, die die Zögerlichen mitgerissen hat, die gab es mitunter schon. Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm das will! So kamen die vergleichsweise satten Lohnsteigerungen der 60er, 70er Jahre zusammen, in den 80ern stiegen dann allerdings auch die Arbeitslosenzahlen, mit denen die Gegenseite dann wieder ihr Erpressungspotenzial wieder ausbauen konnte – das heute dank der Hartz-Schikanen so gut funktioniert, dass jeder sich an seinen Job klammert und sei der noch so mies. Alles ist besser als nichts.

Wie komme ich eigentlich darauf? Ich fand in den Ferien ein Taschenbuch wieder, das ich in meiner Abiturzeit gekauft hatte. “Wir behaupten das Gegenteil. Texte aus der Arbeitswelt von 1970-1986.” Herausgegeben vom Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Frankfurt am Main,1986. Das es überhaupt einmal so etwas gegeben hat, im damals, im angeblich goldenen Westen. Aus dem Klappentext:

Glaubt man den öffentlichen Verlautbarungen, dann befindet sich diese Republik bereits seit mehr als zwei Jahren im Aufschwung. Nur eine Zahl stört dabei, und die wird jeden Monat neu verkündet: die Zahl der Arbeitslosen. Dennoch kommentieren die Medien: es geht wieder aufwärts.
Dieser Band stellt eine Auswahl von Texten aus verschiedenen Bänden dieser Reihe vor, die das Gegenteil behaupten.

Es lohnt sich auch heute noch, diese Texte zu lesen. Sie erzählen, wie der neue Chef, ein promovierter Wirtschaftsingenieur, seinen Leuten immer neue Verschlechterungen aufzwingt, damit er noch mehr Gewinn machen kann. Oder wie die alten Chefs sich gegen eine teure Belüftungsanlage sträuben, während sie in immer schnelleren Takt immer mehr arbeiten lassen – bis die Leute umfallen und aus Notwehr zu streiken beginnen. Sie erkämpfen sich die Lüftungsanlage – um ihren Herren künftig noch besser dienen zu können. Oder die Stahlwerker, die für ihre harte Arbeit an den Hochöfen eine Zulage zum Tariflohn ertrotzen wollen – während des Streiks gibt es einen Wassereinbruch in einem der Öfen – und natürlich retten die Arbeiter selbstverständlich und unaufgeregt die teure Anlage, bevor den Direktoren überhaupt klar wird, welche Gefahr über dem Unternehmen schwebt. Die Arbeiter wissen sehr wohl, dass es sie ihre Existenz retten, wenn sie das Eigentum ihrer Chefs retten. Die ihnen trotzdem die 30 Pfennig mehr pro Stunde nicht zugestehen wollen. Am Ende setzen sich die Arbeiter mit ihren Forderungen durch – dieses Mal. Aber das Streikrecht wird derzeit von allen Seiten sturmreif geschossen – wer in diesen Zeiten der Krise mehr Lohn fordert, gefährdet nicht nur den Standort Deutschland, sondern ganz Euroland, ach was, die Weltwirtschaft!

Genau jene Weltwirtschaft, die dafür sorgt, dass noch immer Menschen zu uns kommen, in der Hoffnung, dass es ihnen hier gelingen würde, sich ein besseres Leben zu erarbeiten. Und tatsächlich wird ihre Arbeit gern genutzt – sie sind die billigsten und willigsten Arbeitskräfte, praktisch rechtlos, der Willkür ihrer Vermittler und Arbeitgeber ausgeliefert – hier besteht ein moderner Sklavenmarkt – nur, dass die Herren sich nicht mehr um das leibliche Wohl ihrer Arbeitstiere kümmern müssen, sie wohnen unter schrecklichen Bedingungen in schäbigen Baracken oder Abbruchhäusern, und dürfen sich nicht frei bewegen – und wenn sie, weil sie illegal im Land sind, erwischt werden, lässt man sie im Stich. Und es ist keineswegs so, dass sich die armen Würste unter den Einheimischen mit ihren Leidensgenossen solidarisieren würden – im Gegenteil. Immer wieder vergreift sich ein Mob aus deutschen Verlierern an den noch schwächeren. Es ist so erbärmlich.

Aus aktuellem Anlass: