Winters Hunger

Von Guidorohm

Winter hat ein Restaurant entdeckt.
Es versteckt sich zwischen einer Mitternachts-Bar – einem seltsam zwielichtigen Ort für Kurzentschlossene, der, man mag es kaum glauben, jede Nacht nur für eine Minute geöffnet hat, nämlich jener Minute, die sich den zwölf Schlägen, die die Geisterstunde einläuten, anschließt – und einem sich selbst so bezeichneten Reizhusten-Theater, dem unaufhörlich die Aufschreie zahlreicher Lungen entfliehen.
Ganz verdutzt über die Anwesenheit des Restaurants in dieser seiner Straße, öffnet Winter die Tür, unter Klagelauten, wie ihm rasch klar wird, verebbt das herzzerreißende Stöhnen doch augenblicklich nach dem Klicken ins Schloss. Diese Tür will hörbar nicht benutzt werden!
Winter lässt seinen Blick schweifen. Er schickt ihn auf Reise. Die Tische sind allesamt unbesetzt. Kein auffälliges Restaurant, eher eines, wie er es aus amerikanischen Gangsterfilmen kennt. Auf solche Restaurants wird in den Filmen meist geschossen. Sie werden von Italienern geführt und von Italienern geschlossen.
Schon greift eine Hand nach ihm und drückt ihn auf den nächstbesten Stuhl.
Winter sieht auf und blickt in das Gesicht eines alten Mannes mit Nickelbrille, der ihn nach seiner Bestellung befragt.
Überwältigt von diesem überfallartigen Kellner zuckt Winter mit den Schultern.
Der Kellner nickt verständnisvoll und empfiehlt ihm als Vorspeise eine buntgemischte Platte mit Gedichten von Kästner, Heine und Celan. Den Celan, erklärt der Kellner, würden die meisten Gäste abbestellen, er aber würde dazu raten, allein schon aus ästhetischen Gründen.
Winter wiegt den Kopf. Er würde doch lieber gleich zum Hauptgang kommen.
„Selbstverständlich“, sagt der Kellner. „Unser Tagesangebot wäre ein Joyce-Auflauf. Der Auflauf wird hübsch mit Arno-Schmidt-Spitzen garniert.“
„Nein, nein“, winkt Winter ab. „Keinen Joyce. Der liegt mir immer schwer im Magen. Mir stände der Sinn eher nach etwas Leichtem.“
Der Kellner überlegt. Er spitzt die Lippen, dann rutscht es ihm aus dem Mund: „Dann vielleicht Bradbury. Die Mars-Chroniken sind frisch rein gekommen.“
Winter strahlt über das ganze Gesicht. Ja, der Bradbury würde ihm gut bekommen und keine Koliken zur Folge haben. Er bestellt aber nicht die Chroniken, sondern Fahrenheit 451.
Zufrieden schlurft der Kellner davon. Winter lehnt sich zurück und denkt: Ja, es wurde doch Zeit für ein solches Restaurant!