Winters Fehler

Winter hat einen Fehler begangen, ein Fauxpas der besonderen Art, ließ er sich doch nach dem Besuch in einer Bar dazu hinreißen, in seinem Internettagebuch über die Brustbehaarung eines Schriftstellerkollegen zu fabulieren. Winter, der sich bei seinen Worten nichts Böses dachte, war ganz fasziniert von den aus dem Hemd sich ins Neonlicht ergießenden Haare, die ihn an einen Dschungel erinnerten, an ein fernes Dickicht, darin sich blutrünstige Tiere ein Zuhause geschaffen hatten.
Nun hat Winter den Salat, denn betreffender Autor las über sich und seine Brustwildnis.
Wütende Kommentare folgten, die Winter allesamt brav freigab, ist er doch ein Anhänger des freien Wortes; ja schon die bloße Erwähnung von Zensur kann ihn tagelang an sein Bett fesseln, damit er an dieser Traumopferstätte zu neuer Kraft findet. Denn der Traum ist ein heiliger Ort, der noch nicht von Ordnungshütern durchstöbert wird. Aber Winter (der das Wort ABER so sehr mag, dass er es sich einst auf einen Zettel notierte, der nun stets griffbereit neben ihm auf dem Nachttisch liegt, sodass Winter, fühlt er sich betäubt oder wortohnmächtig rasch das Papier mit den Finger berühren kann; seine Finger gleiten zärtlich über die einzelnen Buchstaben, bis sich nach Minuten wieder ein Lächeln auf sein Gesicht legt) ahnt, auch in die Träume werden sie bald eindringen. So sinnt er pausenlos über eventuell zu ergreifende Gegenmaßnahmen. Er versuchte sich schon Freiheitskämpfer zu erträumen, die er im Gestrüpp eines zerklüfteten Hirngebirges hinterließ, damit sie dort wachsam und mit genügend Buchstaben-Munition auf die Ankunft der Traumpolizei warten.
Täglich kann Winter die Beschimpfungen lesen, die er sich mit seinem Eintrag eingehandelt hat; einer schrieb gar, er sei ein Arschloch. Winter wusste nicht recht zu antworten, konnte er die Bezeichnung doch auch nicht ganz in Abrede stellen, denn immerhin ist er Schriftsteller und daher offen für alle Positionen, die er literarisch auszufüllen gedenkt. Er kann alles sein und muss alles sein können: Arschloch, Hausfrau, Mutter, Vergewaltiger, Jesuit, Reinigungskraft, Düsenjetpilot.
Zum Glück für Winter ebbte das wütende Blitzen bald ab, hatte sich doch ein anderer Schriftsteller nach dem Besuch derselben Bar erdreistet einige Worte über den Mundgeruch einer gewissen Lyrikerin, deren Namen an dieser Stille natürlich mit einem Mantel aus Schweigen bedeckt werden soll, zu schreiben.
Das lenkte die Meute von Winters Fehltritt ab. Nun schoss man sich auf seinen Kollegen ein, dem man gar Schläge androhte, denn auch wenn wir uns hier in der Welt der Literatur befinden, so kann es doch auch handgreiflich zugehen, vor allem bei den Autoren, die sich an den Geschichten über die Surrealisten überfraßen und nun der Meinung sind, ein gewisser Gossenjargon stände ihnen gut zu Gesicht und würde sie auf eine Stufe mit dem jungen Aragon heben; denn dann würde man ja endlich in einer Liga mit Breton und Konsorten spielen.
Winter, um nicht weiter aufzufallen, beteiligt sich natürlich an den Schmähungen, die da im Internet gegen seinen Kollegen gespien werden.
Er beschimpft ihn auf die übelste Art, schon vergessend, wie es ihm vor einigen Tagen erst erging.
Aber (da ist wieder Winters Lieblingswort) man will ja wieder einmal das Haus verlassen, in die Bar gehen und sich mit Kollegen das Maul über die Neuveröffentlichungen abwesender Schriftsteller zerreißen. Da muss man sich im Bund mit der Masse zeigen.
Winter schreibt sich immer tiefer in den Reigen der Ankläger. Einer, der sich derart über den Mundgeruh einer hochgelobten Lyrikerin errege, sei es nicht wert, noch länger ein Teil der Geheimen Schriftersteller zu sein, schreibt Winter. Er wirft ihn kurzerhand aus der Loge, die er sich dereinst im Kopfe schuf, nicht ahnend, dass sich sein Kollege in einigen Stunden aus dem Fenster stürzen wird; denn nicht alle sind gewappnet im Kampf gegen die eigene Zunft. Dieser war es wohl nicht.
Als Winter von dem Unglück hört, bereut er seine Worte tief und innig. Er tut dies mit seinen literarischen Werkzeugen. Er tut es öffentlich in seinem Internettagebuch. Denn alles ist Winter Stoff für seine Literatur.



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