Wintermärchen

Als Kind wäre es mir nie in den Sinn gekommen, zu zweifeln. Es gab ja auch keinen Grund dafür, gab es doch zahlreiche Beweise für die Existenz des Winters. Knietiefen Schnee, rasante Schlittenfahrten, Höhlen, die wir in die Schneehaufen am Strassenrand gruben und Temperaturen wie im sibirischen Frühherbst. Der Winter, da war ich mir damals sicher, ist echt.

Später aber geriet mein Winterglaube ins Wanken. Das, was mich in meiner Kindheit so begeistert hatte, war wohl nichts weiter als eine gut inszenierte Show, ähnlich wie die Sache mit dem Samichlaus oder das gespannte Warten aufs Christkind, welches sich ja doch nie blicken liess. Schnee gab es, wenn überhaupt, im März oder gar im Juni, wenn man eigentlich auf Sommer eingestellt war. Frieren musste man nur, wenn man sich wirklich unvernünftig anzog, zum Beispiel Sommerkleidchen und Ballerinas am 30. Januar.

Und so verkamen die Winter-Accessoires allmählich zu Reliquien aus einer längst vergangenen Zeit. Vielleicht kaufte man sich mal einen dicken Wollpullover, weil er so schön anzusehen war. Man rahmte ihn ein und hängte ihn an die Wand, so wie ein vom Glauben abgefallener orthodoxer Christ irgendwo aus sentimentalen Gründen eine Ikone aufhängt. Winterstiefel, Handschuhe und Mützen schlummerten weit hinten im Schrank, neben geschmacklosen Souvenirs von der Freiheitsstatue, Basteleien aus Kindertagen und vergilbten Liebesbriefen. Hin und wieder liess man am Auto Winterreifen montieren, weil man dem armen Garagisten auch mal wieder Arbeit verschaffen wollte und wenn mal ein Hauch von Kälte durchs Land wehte, führte man die Winter-Accessoires spazieren und schwitzte erbärmlich.

Ganz klar, meinen Glauben an den Winter hatte ich vollends verloren und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, heiratete ich einen Mann, der an der Existenz des Winters nicht nur zweifelte, sondern der den Gedanken an diese Irrlehre geradezu verabscheute. Ein Sommer-Fundamentalist, der bei jedem Anzeichen von Winter in Rage gerät und mit Auswandern droht. Zwar gestand er mir die Freiheit zu, weiterhin die äusseren Formen des Winterglaubens zu praktizieren und begleitete mich sogar brav ins Schuhgeschäft, um die Kinder mit Winterstiefeln auszustatten, aber mir war immer klar, dass er mit dem Herzen nicht dabei war und eigentlich lieber Sandalen gekauft hätte. Wenn ich aber mal mit den Kindern den selten gewordenen Schnee feiern wollte, musste ich dies alleine tun. Mit solch hohlen Ritualen wollte er nichts zu tun haben.

So kam es, dass in unserer Familie der Glaube an den Winter immer mehr verwässert wurde und schliesslich einer armseligen Religiosität weichen musste. Manchmal erzählte ich den Kindern noch vom Winter, weil sie wissen sollten, dass sie in einer winterlich geprägten Kultur aufwachsen. Ich wollte ja nicht, dass sie als vollkommene Ignoranten dastehen, falls sie mal im Zeichenunterricht Pieter Brueghels “Jäger im Schnee” betrachten oder falls der Musiklehrer auf Franz Schuberts “Winterreise” zu sprechen kommt. Verkündete aber ein Wetterprophet, dass es bald schneien würde, sagten wir: “Das müsst ihr nicht glauben, Kinder, das ist wie beim Horoskop. Alles nur Humbug.”

Tja, und jetzt stehen wir da wie die letzten Sonnenanbeter, weil wir glaubten, den grossen Kälteeinbruch gebe nur im Märchen.

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