Wind und Robben

„Kommen Sie, kommen Sie, sagte er, Sie wollen doch sicher unsere kleine Gemeinde kennenlernen, hier sehen Sie schon einen guten Teil, und er zeigte auf die Grabsteine.“

Annette Pehnt: “Insel 34″, Roman

Zwei Jahre nach ihrem famosen Debüt, „Ich muß los“, in dem Annette Pehnt auf angemehm unaufdringliche Weise Charaktere entwickelte und sie mit viel Empathie ein Stück auf ihrem Weg begeleitete, erschien ihr zweiter längerer Prosatext. Auszugsweise in Klagenfurt/02 vorgetragen und mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, knüpft „Insel 34“ dort an, wo man die Autorin vor zwei Jahren verließ.

Ihre typische Sprache hat sie sich bewahrt, jene verfeinert und eine Erzählung darin eingeflochten, welche auf die Bandbreite ihres epischen Schaffens verweist, wie auch den literarischen Hintergrund, auf dem man sich bewegt. Kaum ein Satz, der nicht abgewogen, keine Zeile die achtlos dahin geworfen wäre. Alles passt und schafft nach wenigen Zeilen atmosphärisch dichten Raum. Annette Pehnt ist eine Schriftstellerin, der Sprache etwas bedeutet und die sich um Worte Gedanken macht.

„Einen Moment lang verharrten wir so, der Erdkundelehrer vor mir, die Hände auf meinen Knien, seine weißen Unterarme in der Schwebe. Die Armbanduhr an seinem Handgelenk war so groß wie ein Spiegelei. Mir war heiß. Ist die wasserdicht, fragte ich. Er seufzte, stand ungeschickt auf, beide Kniegelenke knackten gleichzeitig, bis zu hundert Meter unter dem Meeresspiegel, sagte er.“

Pehnts „Sprechsätze“ bilden kleine Wirbel, die den Leser erfassen und dorthin hinabziehen, wo die Annäherung an die Figuren nicht mit einem Vorschlaghammer vorangetrieben wird, sondern sich behutsam und sachte vorwärts windet.

„Die Insel war aus Basalt und nicht durch Fährverkehr mit dem Festland verbunden, hatte keine Rohstoffe und wenig Tourismus, genau wie die dreiunddreißig anderen Inseln vor unserer Küste, die auch alle aus Basalt waren.“

Wind und Robben

Der Leser nimmt teil durch den Blick einer namenlos bleibenden Ich-Erzählerin, die präzise wahrnimmt, innerlich notiert und ihr Leben rückwärts blickend bewertet. Sie bemüht sich, am Leben anderer teilzuhaben, ist aber mit dem Makel der Außenseiterin geschlagen, der in diesem Falle Selbstbetrachtung heißt. Die Erzählerin weiß nicht um die Ursachen ihres am Rande Stehens, beobachtet ihr Bemühen, von dort weg zu gelangen, aber mit demselben forschenden und kühlen Verstand, mit dem sie zugleich ihre Umwelt und also auch das eigene Versagen an ihr bemisst.

„Weil niemand ihnen jemals einen Namen gegeben hatte, waren sie nummeriert, sehr selten ist das, sagte Herr Kohlhas, der Erdkundelehrer, die Menschen haben für alles einen Namen, jeder Felsen in der Antarktis heißt irgendwie.“

Insel 34 ist Symbol und zugleich Chiffre des Romans. Abgelegen von Zivilisation und Gesellschaft ist sie selbst unter ihresgleichen ein Fremdling. Kein Bewohner der anderen 33 Inseln weiß etwas über sie oder verspürt Interesse, dorthin fahren zu wollen. Auf der Landkarte des Festlandes bleibt sie ein weißer Fleck, der einlädt zur tagträumerischen Fantasie und als idealer, weil unbeschriebener Projektionspunkt unerfüllten Lebens dient. Die Ich-Erzählerin träumt nicht von Hawaii, Bora Bora und Südsee-Kitsch. In der Schule stets die Beste, bleibt sie Außenseiterin, an der das Leben seltsam ungerührt vorüberzieht. Leidenschaftslos sei sie, meint der besorgte Vater und gibt sich erst beruhigt, als die schulischen Leistungen derart nachlassen, dass er dadurch indirekt auf eine innere Bewegung der Tochter schließen darf, ein endlich aufkeimendes Interesse, welches das schulische Nachlernen überdeckt und ersetzt. Doch die Tochter spielt ihr Leben als Rolle. Sie lässt die Projektionen der anderen an sich abprallen und erfüllt die gestellten Erwartungen an der Oberfläche, um im Inneren die eigene Verwirrung und Haltlosigkeit zu pflegen. Die Mutter lässt sie nach dem Abitur glauben, sie führe einen funkelnden, aufregenden nächtlichen Lebenswandel, und letztlich, da ergänzend eine universitäre Karriere eingeschlagen wird, auch der Vater in seinem Drängen befriedet. Tatsächlich ist ihr dies alles gleichgültig. Mit Dialektologie beschäftigt sie sich, da sie einen Professor des Faches zufällig in der Bibliothek trifft und die Disziplin immerhin einen bestimmten Zugang zu den Inseln vor der Küste bietet.

„Später im Büro machte ich den Tee zu meiner Aufgabe. Professor Losten hatte keine Anweisungen erteilt, und ich glaube nicht, dass er darauf achtete, ob er Tee bekam oder Spülwasser oder gar nichts, nur wenn er schrieb, brauchte er Flüssigkeit, weil er dann stark schwitzte.“

Doch wie sie sich im alltäglichen Leben abseits stehen sieht, erweist sich auch der wissenschaftliche Umgang als abseitig. In Büchern wird gelesen und in Zeitschriften geblättert. Konsonanten werden verglichen und das Emailleschild vor dem eigenen Büro gewienert. Wirklicher Kontakt zum Leben findet sie auch hier nicht. Insel 34 bleibt ein Schemen, hinter Nebelbänken verborgen, unerreichbar durch die ihr bekannten Schifffahrtslinien.

„Ich musste schließlich bei Nacht und Nebel aufbrechen. Wenn ich gewartet hätte, bis alle mir ihren Segen erteilt und verstanden hätten, was ich dort wollte, säße ich jetzt noch in meinem Büro und läse brüchige Zeitschriften.“

Selbstverständlich bricht die Ich-Erzählerin eines Tages auf, um die Insel endlich mit eigenen Augen sehen und eigenem Körper spüren zu können. Die bis dahin dramaturgisch geschickt geschürzte Handlung lässt den Leser hinfiebern auf diesen ersten Moment der Begegnung, die Hebung des Vorhanges – und sei es auch nur ein kleines Stück – und das bereitet viel Spaß, weil gekonnt inszeniert.

Marte, Dilse, Tesen.

So heißen die Bewohner von Insel 28, wo sie zuerst anlandet, symbolisch von einem Müllkutter dorthin verfrachtet. Marte, die Vorsitzende eines elitären Kreises „reicher Schnepfen“, drängt die Erzählerin zum Bleiben, ermuntert sie zu einer wissenschaftlichen Arbeit über Palatalisierung und Friktion der Konsonanten und unterstützt die Abhandlung über die Inselsprache mit einem dreimonatigen Stipendium.

„Ich brauche einen Schlafanzug, sagte ich, und Konsonanten.“

Dilse lehrt sie auf der Sackpfeife zu spielen und Tesen, der Vermieter ihrer kleinen techa, schweigt dazu. Es gehört zu den unbestreitbaren Stärken von Annette Pehnt, Alltägliches spannend wirken zu lassen und es mit Bedeutung aufzuladen. Wie ihr das gelingt, erinnert wohltuend an Magnus Mills’ und vor allem an „All quiet on the Orient Express“. Der Antagonismus zwischen Marte und Dilse wird nur angedeutet, beide Frauen scheinen im Geheimen um die junge Fremde zu kämpfen, sie auf die jeweils eigene Seite ziehen zu wollen. Doch ausgesprochen wird nichts, die Bewohner der Insel gleichen selbst Inseln, ohne wirkliche Verbindung zueinander. Man redet nicht viel, blickt weg und wenn etwas gesagt wird, dann geschieht dies kryptisch und skurril.

Wind und Robben

Nach einiger Zeit wirkt dies etwas zu durchdacht, zu kalkuliert und viel zu literarisch. Kaum eine Szene, die nicht etwas bedeutete, kaum ein Satz, der nicht noch mehr verschleierte. Je weiter man vordringt, desto mehr zieht es sich zu, die Sicht wird gekrümmt und man bleibt schlau wie zuvor. Der Text bleibt flüssig zu lesen. Die angeführten Punkte tun seiner formalen Qualität keinen Abbruch. Doch rutscht die Konstruktion im letzten Drittel ab ins allzu Geheimnisvolle. Da der Roman weitgehend handlungsarm bleibt und mehr von Beschreibungen, Reflexionen und Erinnerungen zusammengehalten wird, beginnt das Mysteriöse immer weniger zu fesseln und mehr Anlass zur Gleichgültigkeit, denn des Nachfragen zu geben. Dem geübten Leser ist von Beginn an klar, dass Insel 34 bis zum Ende Schemen und Geheimnis bleiben wird – ja muss! -, dennoch würde ein bisschen mehr Fleisch am Knochen der Dramaturgie dem Roman gut tun.

Der Sprung auf Insel 33 wirkt dann nicht mehr wirklich überraschend, die dort getriebene Archäologie zwar interessant, doch zu sehr in ein Bild gezwungen, welches die seelischen Grabungsarbeiten der Erzählerin verdeutlichen soll. „

“Irgendwo unter mir, in den tieferen Schichten des Schwarztorfes, wusste ich den alten Weg, auf dem niemand gegangen war.“

Hier angelangt, wünschte man sich, endlich ein bisschen mehr an Information geboten zu bekommen als das Geraune und Gemurmel der „Graber“. Die Symbolik wird dem Leser nun mit einer Deutlichkeit auf die Augen geschlagen, dass eigenem Entdecken kein Raum und selbstständigem Deuten kein Stoff geboten wird.

„Insel 34“ bleibt handwerklich betrachtet ein guter Text, dem allerdings weniger „Literarisierung“ gut getan haben würde – zumal sein Motiv kein wirklich Neues ist. Die Autorin schöpft aus Literatur – jedem Kapitel ist ein kluges klassisches Zitat vorangestellt – und versucht, Literatur zurückzugeben. Auf weiten Strecken gelingt dies. Dennoch fehlt den Figuren die Intensität von „Ich muß los“, bei aller sympathischer Skurrilität wirken sie oft gezwungen und bewusst kafkaesk.

Bruten Butterwek

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