Voronezh. Wáronjesch. Schon der Name alleine klingt nicht nach Stadt der Träume. Er klang selbst für mich bis zu meiner Ankunft vorgestern eher nach Dreck und tiefster Provinz in jederlei Hinsicht. Ich bemühte mich aber, all das Gelesene und Gehörte (was meistens negativer Natur war) auszublenden, und unvoreingenommen in jener Stadt anzukommen, die für die nächsten drei Monate meine Heimat sein wird.
Und es hat geklappt. Ich bin positiv überrascht. Zwar habe ich bis jetzt nicht allzu viel von der Stadt gesehen, das was ich aber gesehen habe, entsprach nicht wirklich dem Bild, das außerhalb Voronezhs gemalt wird. Das gesamte Stadtzentrum ist frisch restauriert (offensichtlich wurde für das letztjährige 425-Jahr-Jubiläum wie in Irkutsk die halbe Stadt auf Hochglanz gebracht), breite Gehsteige säumen die Straßen, der (zugegebenermaßen sehr dichte) Verkehr läuft in geordneten Bahnen ab und gepflegte Parks laden zum Verweilen ein. Trotz fast einer Million Einwohner aber hat Voronezh noch immer das Flair einer kleinen russischen Provinzstadt – im Guten, wie im Schlechten. So genannte “gopniki” – Männer, meistens in der Hocke sitzend, billigstes Bier aus PET-Flaschen trinkend und “semetschki” (geröstete Sonnenblumenkerne) essend – trifft man an jeder Straßenecke (wie auch in Irkutsk, übrigens), alte Marschrutki (Sammeltaxis) klappern über die Straßen, die Busse stammen meist entweder aus Sowjetproduktion oder wurden gebraucht importiert, der Geruch in den “pod”ezdy” (zu Deutsch etwa Mehrfamilienhauseingänge) ist wie gewohnt eine Mischung zwischen Tierexkrementen, frisch Gekochtem und Undefinierbarem. Kurz: Russland, so wie es sein sollte. Weit, weit weg scheint die glänzende, wunderbar europäisch funktionierende Hauptstadt zu sein. Und das ist auch gut so.
Aber wechseln wir das Thema. Ich hätte eigentlich vorgehabt, einen wunderschönen Eintrag über meine Zugfahrt von Moskau hierher zu schreiben. Ich wollte darüber schwärmen, wie angenehm und entspannend es ist, mit der russischen Bahn durch das Land zu fahren, welch interessante Menschen man während der Fahrt kennenlernt. Daraus wurde aber nichts – im Folgenden jene Zeilen, die ich während der Reise in meinen Notizblock gekritzelt habe.
22.05.12, 16:35 Uhr
Da ist es wieder, dieses Gefühl. Das sanfte, weiche Schaukeln, der typische Geruch, das langsame Vorbeigleiten der Landschaft. Ich liege bäuchlings auf meiner Pritsche und genieße.
Es ist für mich immer wieder ein Gefühl der Freiheit, in einen russischen Fernzug zu steigen. Lange musste ich darauf warten, es hat mir richtiggehend gefehlt, wie ich gerade merke. Vor gut eineinhalb Stunden bin ich aus Moskau abgefahren. Dort hatte ich, wie ich in meinem letzten (zugegeben eher mauen) Eintrag anklingen ließ, drei unvergessliche Tage verbracht, viel gelacht, in Erinnerungen geschwelgt und gestaunt.
Nun geht es aber wieder in die Provinz, nach Voronezh. Sechs Stunden Fahrt liegen noch vor mir. Sechs Stunden, die ich mit Lesen, Nachdenken und Musik verbringen werde.
Und nun die nächste Notiz, sechseinhalb Stunden danach verfasst.
Das war Eisenbahnromantik, so wie ich es gewohnt war. Als ich den letzten Eintrag schrieb, war ich noch zutiefst entspannt. Diese Entspannung blieb aber buchstäblich auf der Strecke. Vor einer halben Stunde hätte ich in Voronezh ankommen sollen – irgendwie liegen aber noch mindestens zwei Stunden Zugfahrt vor mir.
An sich wäre das doch kein Problem: Zeit habe ich. Und an sich empfinde ich für russische Züge auch tiefste Zuneigung. Heute aber nicht. Um es gehoben auszudrücken, echauffiert mich das – Verzeihung – Gesindel in meinem Waggon. Dass schon vierjährige Kinder russische Kraftausdrücke gebrauchen und ihre Eltern nicht ein geringstes Maß an Anstand und Rücksichtnahme zeigen, habe ich bis jetzt noch nicht erlebt.
Vielleicht ist es zu gewagt, dies nun zu äußern – aber im europäischen Teil Russlands habe ich schon des öfteren Ansätze einer ansonsten unrussischen Eigenschaft festgestellt: Kulturlosigkeit in all ihren Nuancen. Ich hoffe, dass ich mich irre.
Offensichtlich lagen meine Nerven zu jenem Zeitpunkt schon ziemlich blank. Außerdem hatte ich kein Guthaben mehr auf meinem Handy und die Akkuanzeige bewegte sich auch mehr und mehr gegen Null. Das wäre ja an sich auch kein Problem gewesen – vorausgesetzt, ich hätte gewusst, wo sich meine Wohnung befindet und wie ich dorthin komme. Mit meiner Mitbewohnerin Dasha hatte ich allerdings vereinbart, dass sie mich am Bahnhof abholt. Ich aber zweifelte daran, dass sie trotz über zweistündiger Verspätung und typisch russischer Informationspolitik immer noch dort warten würde und war mental schon auf eine Nacht im Bahnhof vorbereitet. Dasha aber hatte sich in der Zwischenzeit, wie sie mir später erzählte, zu den Obdachlosen gesellt und auf mich gewartet. Sehr nett.
Nun bin ich also hier, in Voronezh. Und stecke noch mitten im Anpassungs- und Eingewöhnungsprozess. Dieser zieht sich im Übrigen länger, als gewohnt – warum auch immer. Es kann damit zusammenhängen, dass Voronezh mit keiner Stadt zu vergleichen ist, in der ich bis jetzt war – auch nicht mit dem ähnlich provinziellen Irkutsk. Es kann auch damit zusammenhängen, dass der richtige Durchblick bei meiner Arbeit noch auf sich warten lässt. Möglicherweise ist es eine Mischung von allem, von all dem Vielen, das derzeit auf mich einprasselt. Ich bin aber guter Dinge, dass sich die Nebel spätestens nächste Woche lichten.
Schon heute aber geht es wieder nach Moskau. Ich werde dort morgen und übermorgen an einem Einführungsseminar und an einer Konferenz für Menschenrechte teilnehmen. Anfang nächster Woche gibt’s dann wieder Neues.