Die deutsche Öffentlichkeit glaubt nun, dass die türkische Europauntauglichkeit nachdrücklich unterstrichen sei. Das ist mutig für die Öffentlichkeit eines Landes, in dem in der jüngsten Vergangenheit Kapitalismuskritiker und Bahnhofsgegner mehrfach krankenhausreif geprügelt wurden.
Na ja, mutig - oder einfach nur betriebsblind. Vielleicht handelt es sich ja auch im besten psychoanalytischen Sinne um die unbewusste Verlagerung eigenen Versagens auf ein anderes Objekt. Mit freundlicher Unterstützung der Polis natürlich. Es ist in jedem Falle ein Gutteil Chuzpe dabei, die Ereignisse in der Türkei als Feigenblatt zu verwenden.
Mir war nämlich so, als habe amnesty international vor einigen Jahren erst erklärt, dass ausgerechnet im europatauglichen Deutschland die Polizeigewalt floriere. Von Schlägern in Uniform schrieben manche Zeitungen damals. Schläge und Schikane wären demnach üblich - und tödliche Ausgänge hätte es schon mehrfach gegeben. Die Berichte der letzten Jahre, aus Heiligendamm, Stuttgart und Frankfurt, haben doch zudem belegt, dass dieses Land ein Expansionsfeld für aggressive junge Leute ist, die sich im Öffentlichen Dienst zum Wohle der Allgemeinheit austoben wollen. Gut, ist ja wahrscheinlich nicht weiter schlimm, denn amnesty international hat dieses Phänomen der gesamten EU attestiert. Ist halt ein Trend - was will man da machen?
Was ist jetzt eigentlich der große Unterschied zwischen türkischen und deutschen Knüppeln? Mancher wird nun sagen, dass die Gewalt in der Türkei unvergleichlich sei. Das sag' mal einer dem erblindeten Typen aus Stuttgart, der weiß was über Unvergleichlichkeiten zu berichten. Platzwunden sind immer unvergleichlich, keine sieht aus wie die andere. Überhaupt so ein dämliches Wort - wie auch dieses "unverhältnismäßig", das einige moderaten Kritiker des Frankfurter Straßenterrors in den Mund nahmen. Was soll denn das sein, unverhältnismäßig? Welches Verhältnis und in welcher Relation dazu ist gemeint?
Ob wohl der Typ aus Bellevue schon mit dem hessischen Innenminister telefoniert hat? Mit seinem türkischen Amtskollegen hat er das ja. Wusste gar nicht, dass der Türkisch spricht, geschweige denn Englisch.
Dieselbe deutsche Empörung wegen des Referendums, das Erdogan vorgeschlagen hat. Vermutlich hat der in Stuttgart gespickt. Dort hat man begriffen, dass Proteste schnell mittels dem Desinteresse der Massen erstickt werden können. Das Desinteresse ist der Machtfaktor des Weiter so! Spätestens wenn Erdogan den Geißler ins Spiel bringt, ist die Zermürbungstaktik vom Neckar bestätigt.
Selbstverständlich kann man sich empören. Das was in der Türkei läuft, ist ja nicht hinnehmbar. Aber wo bitte ist dieselbe Haltung, wenn in Deutschland Proteste niedergeprügelt werden? Oder wenn die deutsche Polizei Menschen, die in ihrem Gewahrsam sind, über die Klinge springen läßt? Zumindest im ersteren Falle gibt es freilich Aufregung. Einen Diktator hat man Mappus aber nie genannt und der hessische Innenminister bekam auch kein Hitlerbärtchen angeleimt. Und nach der ersten Aufregung kommt die Verklärung, mästet man die Einsicht, es sei alles nicht so dramatisch gewesen, wie es die TV-Bilder zeigten. Erdogan wird aber den Titel eines Diktators nicht mehr los werden.
Dass man hierzulande den Protest zu einem antiislamischen umdeutet, ist die typische westliche Idiotie, der Wunschtraum einer Gesellschaft, die den dunkelhäutigen Moslem fürchtet, wie einst den langnasigen Juden. Ich habe jedenfalls nichts davon gelesen, dass die Proteste zu Stuttgart 21 auch antichristliche Motive beinhalteten, weil man mit der christlichen Regierungspartei unzufrieden gewesen wäre.
Und die Europauntauglichkeit ist ganz sicher nicht bewiesen. Im Gegenteil. Polizeigewalt in Madrid und Athen, bei so gut wie jedem G8-Gipfel und auch in Deutschland immer wieder - Willkommen in der EU, liebe Türkei! Eure Polis ist mit dem Leitgedanken der modernen europäischen Polizei schon vertraut. In dieses Europa der Schlagstöcke würdet ihr euch blendend integrieren.