Das zweite Leben der alten Mühlen
Wer durch die Landschaft Yorkshires schlendert, radelt oder düst, dem dürfte bald schon ins Auge fallen, dass an vielen Orten große, sandsteinfarbene Fabrikgebäude in die Landschaft ragen. Doch aus den Schornsteinen steigt schon lange kein Rauch mehr auf, kein Maschinengeräusch dringt durch die Backsteinmauern nach außen. Mit dem Niedergang der Textilindustrie haben die ehemals die Wirtschaft der Region dominierenden Baumwollmühlen ihre Funktion eingebüßt. Doch auch jetzt noch prägen sie als Erbe des industriellen Zeitalters das Antlitz der Region. Und sie sind weit mehr als das. Viele der ehemaligen Mühlen haben ihre Pforten erneut geöffnet, sind heute moderne Kunstzentren und präsentieren sich in einem innovativen, originellen Licht. Die großzügigen, lichtdurchfluteten Werkhallen bieten Raum und Entfaltungsmöglichkeiten für verschiedenste Nutzungsarten. Neben den berühmtesten Mühlen wie die Salts Mill in Saltaire oder die Armley Mill in Leeds sind es gerade auch die kleineren Mühlen, die dank einfallsreicher Eigentümer einen ganz besonderen Charme versprühen.
Ein Ort zum Staunen und Entdecken
Eine wirklich originelle und ziemlich beeindruckende Neugestaltung einer solchen Mühle habe ich neulich in Elland gesehen: die Victoria Mills, ein wahres Paradies für Liebhaber von Antiquitäten und Kuriosa aus aller Welt.
Bereits von außen erhält man einen Eindruck von der kreativen Aura dieses Ortes, der so ganz unscheinbar in diesem kleinen Städtchen verborgen liegt. Doch kaum öffnet sich die Tür und gibt das Innere des Zauberladens preis, kommt man aus dem Staunen einfach nicht mehr heraus. Auf mehreren Etagen stolpert man durch Gänge und kleine Nischen, die vollgestopft sind mit hochwertigen Möbeln, massiven Statuen, historischem Spielzeug, Büchern, Dekorationselementen und Raritäten aus allen Epochen und Stilrichtungen.
Und alles ist so perfekt in Szene gesetzt und dennoch wie beiläufig arrangiert, dass man teilweise den Eindruck gewinnt, man befände sich in einem noch bewohnten altenglischen Landhaus. Und gleich würde ein vornehmer Lord in kaschmirnem Morgenmantel das Feuerchen unter dem marmornen Kaminsims entfachen, das gute Teegeschirr aus der Wohnzimmervitrine hervorholen und es sich mit einer heißen Tasse Earl Grey und einem Sherlock Holmes im Ohrensessel gemütlich machen. Doch niemand taucht auf und so werden Dinge ganz unbemerkt betastet, beäugt und ausprobiert, ohne, dass irgendwo auch nur ein Verbotsschild auftaucht, im Sinne von: “Anfassen und fotografieren strengstens verboten”. Ja, nicht einmal ein emsig um Kunden herumschleichender Verkäufer ist zu sehen. Das nennen ich ein entspanntes Shoppingvergnügen, auch wenn der Geldbeutel angesichts der horrenden Preisauszeichnungen tief in der Tasche stecken bleibt.
In der obersten Etage sieht es aus, als hätte eine Horde Ungläubiger ein paar Gotteshäuser ordentlich auseinandergenommen und in einer Nacht- und Nebelaktion hergeschleift. Kirchenbänke, Kanzeln, ja ganze Altare scheinen hier auf ihren neuen Besitzer zu warten. Ich glaube, sogar einen Beichtstuhl entdeckt zu haben, aber im Grunde habe ich keine rechte Ahnung von solchen Dingen. Gleich neben den heiligen Sakramenten wird es wieder weltlicher. Hier schließen sich komplette Pubausstattungen an, Tresen, Stühle, gefüllte Vitrinen, alles steht hier bereit zur Neuverwertung. Ein kompletter Kneipentresen im Wohnzimmer. Wer träumt denn nicht davon? Unweit davon befindet sich auch die Restaurationsabteilung. In dieser sitzt ein einsam dreinblickender Arbeiter in neongelber Warnweste am Tisch und mümmelt mit traurigen Augen sein Pausenbrot in sich hinein. Es ist bitterkalt in diesen Räumlichkeiten und ich habe Mitleid mit dem traurigen Restaurateur. Aber vielleicht ist auch alles in Ordnung mit ihm und ich erwische ihn einfach in einem ungünstigen Moment, als er vielleicht nur merkt, dass seine Stulle nicht schmeckt. Wie auch immer, dieser museale Ort ist einfach zum Stöbern und Staunen gemacht. In jeder Ecke, an jeder Wand, ja selbst an den Decken baumeln Schätze von unverkennbarem Wert. In einer weiteren Etage wird das Mobiliar dann moderner. Hier steht eine große Auswahl an stylischem Interieuer für Bars und Restaurants bereit. An den Wänden riesige Bilder mit beispielhaften Szenelokalitäten. Natürlich allesamt Londoner Coleur.
Witzigerweise riecht es hier oben auch passenderweise sehr nach Mittagessen, sodass man richtig Lust bekommt, das eigene Esszimmer aufzumöbeln. Ziemlich clever, wie ich zugeben muss. Um das Ganze mal etwas abzukürzen: wer ein bisschen flüssig ist, oder zumindest weiß, wo der Schlüssel zu Omas Spardose versteckt ist, wer sein trautes Heim ein wenig auf Hochglanz bringen möchte, dem sei ein Besuch in Andy Thorntons Showroom in den Victoria Mills wärmstens empfohlen.