Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes

Wolfgang Krisai: Portalschmuck am Kügelgen-Haus in Dresden. Tuschestift und Buntstift, 2015.Als Maler ist Wilhelm von Kügelgen (1802-1867) nicht allzu berühmt, aber seine Autobiographie ist bis heute lesenswert. Warum?

Kügelgen ist ein Meister der anekdotischen Schilderung von Kindheit und Jugend. Eine amüsante Episode reiht sich an die andere. Der Unterhaltungswert ergibt sich dabei weniger aus den geschilderten Geschehnissen, die nicht selten traurig oder gar tragisch sind, sondern vor allem aus der pointierten Sprache des Autors.

Kleine Kostprobe: „Als ein sehr unzulänglicher Ersatz für dieses Himmelskind [seine früh verstorbene ältere Schwester] ward ich am 20. November des Jahres 1802 in Petersburg geboren, und zwar zu Unzeit, indem ich dem Programme meiner Mutter um zwei Monate zuvorkam: ein Umstand, der auf meine spätere Entwicklung nur nachteilig influieren konnte.“ (S. 8)

Dabei bleibt er aber stets liebenswürdig und es liegt ihm fern, irgendjemanden zynisch an den Pranger zu stellen. Im Gegenteil, noch bei den seltsamsten Käuzen, die im Leben kennenzulernen ihm vergönnt war, sieht er das Gute und Positive.

In Dresden hängengeblieben

Wilhelms Vater Gerhard von Kügelgen verschlug es früh als Maler nach St. Petersburg, wo Wilhelm auch geboren wurde. Um seine Karriere zu fördern, beschließt die junge Familie jedoch, über Estland, woher die Mutter stammte, ins Rheinland zur Mutter des Vaters zu ziehen, um dort künstlerisch besser voranzukommen und später wieder nach St. Petersburg zurückzuziehen oder in Estland ein Landgut zu erwerben. Dazu kommt es allerdings nie. Die Familie strandet gewissermaßen in Dresden, der Vater etabliert sich dort nolens volens als Portraitmaler, obwohl er dieses Genre nicht liebt, und schiebt die Rückkehr in den Osten Jahr für Jahr hinaus. Schließlich kauft er im Dresdner Vorort Loschwitz einen Weinberg mit Sommerhaus – was ihm zum Verhängnis werden sollte.

Gesellschaftlicher Mittelpunkt der Frühromantik

Das Haus der Kügelgens in Dresden – heute als Kügelgen-Haus mit einem „Museum der deutschen Frühromantik“ ein wichtiger Teil des musealen Angebots der Stadt – wurde schnell zu einem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und der Kunstwelt der Stadt. Caspar David Friedrich etwa verkehrte dort, aber auch Goethe stellte sich ein. Eines Tages tauchte er unangemeldet bei Kügelgens auf, als der Vater gerade ausgegangen war, um vom Fenster aus unbemerkt den Einzug eines siegreichen Feldherrn anzusehen, doch noch bevor der vorbeiritt, platze eine zudringliche Verehrerin herein, die den Dichter am Fenster entdeckt hatte, und erging sich in Huldigungen, während derer Goethe jedoch unbemerkt entwischen konnte.

Kriegswirren

Der kriegerische Hintergrund färbt nicht nur diese Szene, sondern einen Großteil des Buches, fallen die geschilderten Jahre doch in die napoleonische Zeit, wo Dresden vom wechselnden Kriegsverlauf mitgenommen wurde. Der sächsische König war treuer Gefolgsmann Napoleons bis zu dessen Ende, was Sachsen insgesamt nicht gut tat. Wenn das Kriegsgetümmel der Stadt zu nahe rückte, suchte die Familie oder zumindest die Frau mit den Kindern in Ballenstedt bei Freunden Zuflucht, jener Stadt, in der Kügelgen seinen Lebensabend verbringen sollte.

Innere Turbulenzen

Als Napoleon von der Geschichte hinweggefegt war, machte sich unter den Studenten der Dresdner Kunstakademie eine Begeisterung fürs „Altdeutsche“ breit, die auch den Studenten Wilhelm erfasste, der nach langem Schwanken doch  in der Malerei seine Zukunft zu sehen glaubte. Dem Vater war diese Deutschtümelei mit Vollbart und mittelalterlicher Tracht gar nicht recht. Und der Sohn legte sie, nachdem der Mord des Studenten Sand an August von Kotzebue deutlich gemacht hatte, wozu deutschtümelnde Studenten fähig waren, von einem Tag auf den anderen wieder ab.

Ein junger Mann verliebt sich natürlich auch, in Kügelgens Fall war das die Liebe zu einer entfernten Verwandten, die im Hause Zuflucht gefunden hatte und dem jungen Mann vollkommen den Kopf verdrehte. Die Sache hatte keine Zukunft, das war klar, und die Rettung brachte der Vater, der den Sohn für einige Monate zu einem befreundeten Pastor schickte (einem dieser ausgeprägten Originale) und die junge Verwandte anderswo unterbrachte.

Donnerschlag

Kügelgens künstlerische Entwicklung wird im Zusammenhang mit der Ausbildung an der Akademie zu schildern begonnen. Ein umfassendes Bild vom Künstler Wilhelm von Kügelgen erhält man durch diese „Jugenderinnerungen“ allerdings nicht, denn sie brechen mit einem Donnerschlag plötzlich ab:

Auf dem Heimweg vom Sommerhaus in Loschwitz, wo er Frau und Kinder besucht hat, wird der Vater von einem Raubmörder umgebracht. Wilhelm, der in der Stadt geblieben ist und auf den Vater wartet, meldet die Abgängigkeit bei der Polizei, als er erfahren hat, dass der Vater noch am Abend von Loschwitz losmarschiert sei. Er beteiligt sich selbst an der Suchaktion und entdeckt die nackte Leiche des Vaters in einer Ackerfurche. Die letzten Sätze lauten:

„Über mich aber und die Meinigen ‚ging der Grimm des Höchsten, und seine Schrecken drückten uns, sie umgaben uns wie Wasser und umringten uns miteinander‘. Und hiermit mag ein Schleier auf mein weiteres Ergehen fallen.“ (S. 666)

Man hat den Eindruck, noch im Alter erschüttere die Erinnerung an das schreckliche Ende seines Vaters den Schreibenden so sehr, dass es ihm die Sprache verschlägt. Deshalb dieses abrupte Ende.

Es gibt zwar einen Fortsetzungsband, der aus Notizen und Briefen aus dem Nachlass zusammengestellt, aber bei weitem nicht so ein Lesegenuss sein soll wie die „Jugenderinnerungen“.

Ein sehr informatives Nachwort von Detlef Droese schließt den Band aus der „Manesse Bibliothek der Weltliteratur“ ab.

Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Manesse-Verlag, Zürich, 1970. Manesse Bibliothek der Weltliteratur. 701 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Portalschmuck am Kügelgen-Haus in Dresden. Tuschestift und Buntstift, 2015.


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