Vom 24. Mai bis 2. Juni 2013 findet in Basel die 6. Ausgabe des Wildwuchs-Festivals statt. Es steht unter dem Motto «Wir stören!» und bietet Kunstschaffenden mit und ohne Behinderung aus aller Welt eine Plattform, um Fragen der sozialen Ausgrenzung und des Daseins als Störfaktor künstlerisch, also lustvoll zu erkunden. – Eine dringliche Empfehlung, sich verstören zu lassen.
Die Zeiten sind längst vorbei, als Behinderte versteckt wurden, jedenfalls in Europa. Doch ich erinnere mich noch an meine Jugendzeit in Bern – das muss Ende 1960er, Anfang 1970er Jahre gewesen sein –, als die Leitung des dortigen Stadttheaters an die Direktion des Schul- und Wohnheims Rossfeld gelangte und diese inständig bat, doch vom Besuch des Stadttheaters mit Schwerstbehinderten abzusehen. Begründung: Die Besucher des Stadttheaters wären durch den Anblick des teils grotesk verformten Äusseren der Behinderten in ihrem Kunstgenuss gestört. Ich kann mich an keinen Aufschrei erinnern …
Nächste Phase: Normalisierung
Inzwischen sind wir gesellschaftlich einen Schritt weiter: Das Normalisierungsprinzip wird rigoros angewendet – na ja, zumindest propagiert. Das heisst, Menschen mit Behinderung sollen ein möglichst normales Leben führen können. Jegliche finanzielle und sozialpädagogische Unterstützung ist nun daran zu messen, ob sie ein Leben im landesüblichen Rahmen befördert oder im Gegenteil ein Sonderdasein, ja Ausgrenzung begünstigt, kurz: ob sie auf die eigentlichen Behinderung noch eine zusätzliche, gesellschaftliche Behinderung draufsetzt. Der Normalisierungsdruck steigt.
Das ist lobenswert, führt aber auch dazu, dass heute viele Behinderte die bessseren Normalos sind: Möglichst nicht auffallen! Möglichst dem Bild des angepassten, dankbaren Behinderten entsprechen! Lieber eine graue Maus als ein bunter Hund sein!
Dritte Phase: «Wir stören!»
Deshalb finde ich das diesjährige Motto des Wildwuchs-Festivals so erfrischend. «Wir stören!» Das heisst zweierlei: 1. Allein durch unser Dasein als Menschen mit Behinderung stören wir – weil wir in vielerlei Hinsicht und trotz aller Bemühungen nicht der Norm entsprechen (können) und alleine dadurch die Normen als solche in Frage stellen. Das bringt Verunsicherung mit sich – auf beiden Seiten. Eine Verunsicherung, mit der wir praktisch täglich konfrontiert sind und die manchmal erheiternd, manchmal aber auch nur lästig ist. 2. bringt das Motto aber auch zum Ausdruck: Wir wollen stören, wir wollen verunsichern, wir wollen die Normen in Frage stellen – weil sie etwas Unmenschliches an sich haben, weil sie oft lebensfeindlich sind, weil sie nerven …
Diese Deutung finde ich besonders spannend. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass wir bei der diesjährigen Ausgabe des Wildwuchs-Festivals diesbezüglich auf die Rechnung kommen.
- Zum Beispiel mit der Tanz/Artistik-Performance der britischen Künstlerin Claire Cunningham. Sie bringt Tanz, Trapez und Krücke unter einen Hut und macht aus der vermeintlichen Not eine Tugend: Das Andersartige wird zum ästhetischen Objekt.
Foto: © Claire Cunningham/Colin Hattersley
- Oder mit der deutschen Performance-/Theatergruppe Monster Truck & Theater Thikwa: Drei SchauspielerInnen mit Down-Syndrom – früher Mongoloide genannt, weil ihr Gesicht oft mongolische Züge aufweist – werden in einer Art Völkerschau als waschechte MongolInnen vorgeführt. Auch Dschingis Khan ist dabei. «Dschingis Khan, der mächtigste Herrscher aller Zeiten, erscheint degradiert zu einer billigen Kirmesattraktion, in der sich Vorstellungen von fremdländischer Exotik mit landläufigen Ideen von geistiger Behinderung vermischen.»
Foto: © Ramona Zühlke/Florian Krauss
Das nur zwei Beispiele aus einem überaus vielfältigen Festivalprogramm, das auch weniger Verstörendes zu bieten hat.
Neben Behinderung (und Begabung), Alter (und Demenz) hat das Festival auch einen interkulturellen Schwerpunkt mit Filmen, Konzerten – und Stadtinterventionen im Zusammenhang mit Fremdsein und Migration. So veranstaltet bblackboxx unter dem Titel «LAGER, FEUER, POLIZEI, STÖRUNG, FETISCH, ASYL, KUNST» eine «Open Source Protest Akademie»: Gemeinsam mit dem «Bleiberecht Kollektiv Basel» soll ein Raum geschaffen werden, in dem mit Interessierten Aktion geplant und durchgeführt werden, die im Zusammenhang mit der aktuellen Migrationspolitik und insbesondere mit der anstehenden Abstimmung über die Asylgesetzrevision stehen. Wenn das nicht Störpotenzial hat!
Zum ausführlichen Programm auf untenstehendes Logo klicken:
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