Warum bricht nun ein solch verheerender Diffamierungs-Beleidigungs-”Internetterroristen”-Sturm gerade über die hinein, die journalistische Aufgaben tatsächlich erfüllen (oder zumindest erfüllen wollen), die wenigstens einen Ansatz von so etwas wie einer “vierten Gewalt darstellen könnten? Warum gehört aber jemand wie Hans Leyendecker, der in Deutschland als “investigativer Journalist” gilt, zu den lautesten Kritikern von WikiLeaks und wird auf einmal zum Anwalt staatlicher Geheimniskrämerei, von Hinterzimmerpolitik und Intransparenz? Ist es tatsächlich nur das gekränkte journalistische Selbstbewusstsein? Gerade aber die ebenfalls heftig kritisierte fehlende journalistische Aufbereitung der “Rohdaten” durch WikiLeaks steht diesem aber doch gerade entgegen: WikiLeaks gibt den Journalisten brisantes Material an die Hand, dass diese dann aufbereiten. WikiLeaks fungiert so als ein zusätzlicher Mittler zwischen direkten Informanten und Journalisten, der die Vorteile bietet, tatsächlich für eine Anonymität der Quellen sorgen zu können (natürlich nur insoweit, als das diese sich nicht selber fahrlässig entarnen) und eine technische Infrastruktur bereitstellen zu können.
Oder, einfacher gefragt: Wie können die Medien überhaupt gegen WikiLeaks sein? Ist es nur die, sicherlich berechtigte, Kritik an einer Art Personenkult und wenig transpartenten Vorgängen innerhalb von WikiLeaks? Eine generelle Ablehnung des Modells WikiLeaks (inzwischen bahnt sich ja auch ein Parallelprojekt an) erklärt dies wohl kaum. Wie sieht es aus mit der Behauptung, dass die neusten Cablegate-Enthüllungen sowieso nichts Neues brächten? Sicher, gerade in der deutschen Presse werden vor allem die eher unwichtigen Anekdoten und Personalgeschichtchen dargestellt. Schaut man jedoch in die internationale Presse, vor allem in den englischen Guardian, entdeckt man durchaus wichtige neue Erkenntnisse, gerade im Bereich des Nahen Ostens. Versucht man, dieses herunterzuspielen? Weiterhin haben die Enthüllungen deutlich gemacht, wie sehr Deutschland und seine Politiker am Rockzipfel der USA hängen, eines Landes, dessen Verständnis von bürgerlichen Rechten und Freiheiten sich, wie man gerade am jetzigen Verhalten gegenüber WikiLeaks sehen kann, eher graduell von dem in Russland oder China unterscheidet.
Aber zurück zur Hauptfrage: Was erklärt den vereinigten Feldzug gegen Wikileaks? Ich denke, wie schon angedeutet, es geht um das Monopol über Information als Machtressource. Die politischen und ökonomischen Machthaber konnten sich bisher sicher sein, dass sie es mit einer veröffentlichten Meinung – aber auch mit einer öffentlichen Meinung – zu tun haben, die ihnen generell, im Kern, positiv gegenüber steht. Die meisten Journalisten werden zwar immer wieder ein paar Skandale aufdecken, aber auf keinen Fall die dahinter stehenden Strukturen, auf keinen Fall das System an sich in Frage stellen. Diese Mainstream-Presse dient dazu, die offensichtlichsten Fehler und Schwächen des Systems vielleicht aufzudecken, jedoch nicht auf ihre Ursachen hin zu untersuchen, so sie dieses System in Frage stellen würden, sondern sie zu integrieren. Nur ein paar Beispiele: Lobbyistische Verwicklungen zwischen Wirtschaft und Politik werden zu Kennzeichen der Demokratie gemacht, allzu direkte Fälle von Korruption zu Einzelfällen stilisiert. Werden Menschenrechtsverletzungen, Folter, Verbrechen der USA aufgedeckt, muss man dennoch “zu unserem engsten Verbündeten stehen”. Die Einschränkungen der Bürgerfreiheiten werden zwar vereinzelt kritisiert, der über allem stehende “Kampf gegen den Terror” aber als absolut notwendig erachtet. Es gibt kaum grundlegende Kritik am Finanzkapitalismus, stattdessen sucht man sich einzelne Fälle von Bankern mit hohen Boni, auf die sich dann die Unzufriedenheit konzentriert. Es geht, zusammenfassend gesagt, darum, einerseits das System stabil zu halten – andererseits aber auch darum, genug Enttäuschungen in der Bevölkerung zu schüren, damit es zu einer zynischen Grundstimmung, zu politischer Apathie und nachlassendem gesellschaftlichen Engagement kommt.
Die Furcht der Machthaber vor einer direkten Beteiligung der Bürger, vor Offenheit, Transparenz und Demokratie hat sich in den letzten Monaten schon bei Stuttgart 21 gezeigt, wo ein erwachendes zivilgesellschaftliches Bewusstsein niedergeknüppelt wurde. WikiLeaks nun birgt die Gefahr, dass es sich bei seien Veröffentlichungen nicht an die von nationalen und internationalen Machthabern vorgeschriebenen Grenzen hält. Wer weiß, welche Enthüllung morgen droht, die dann vielleicht auch von der Systempresse nicht mehr vollständig verharmlost und heruntergespielt werden kann. Allzu “kritische” Informationen können so kaum mehr zensiert, verheimlicht, verdreht oder euphemisiert werden. Die Rolle der klassischen Medien der Selektion, Aggregation, Artikulation und Interpretation von Informationen nimmt ab – das ist ein langfristiger Trend, an dem auch die Versuche, WikiLeaks zu zerstören, nichts werden ändern können. Die Zeit vorgekauter und möglicherweise manipulierter Nachrichten neigt sich ihrem Ende zu – die Zukunft gehört dem freien, gleichen und direkten Zugang zu Information. Das ist die Gefahr von WikiLeaks: Die Wirklichkeit so zu zeigen, wie sie ist, und nicht, wie sie gesehen werden soll. Eine Gefahr, die für eine demokratische Öffentlichkeit nur ein Gewinn sein kann.