Wieso wir uns ausweisen müssen. Ein Interview mit dem Wiener Wissenschaftler Daniel Meßner

Von Vergangenheitsverlag

1. Sie forschen zur Identifizierung von Personen. Wieso ist das ein relevantes Forschungsthema heute?
Praktiken des Identifizierens und damit verbundene Artefakte, wie Ausweise oder Pässe, verändern sich im Laufe der Zeit. Sie sind eingebettet in einen bestimmten sozio-kulturellen Kontext, ein Rahmen, der geprägt ist von Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen der jeweiligen Zeit. Die damit verbundenen Machtverhältnisse gilt es offenzulegen, um verkürzten Debatten in der Gegenwart entgegentreten zu können, in denen das historische Gewordensein einer bestimmten Entwicklung ausgeblendet wird und der Ist-Zustand als Normal-Zustand proklamiert wird.
2. Wieso muss überhaupt jeder identifizierbar sein? Bzw.: Was geht uns verloren, wenn jeder eindeutig identifizierbar ist?
Die Identifizierung von Personen hat immer zwei Seiten: limitierende und ermächtigende Effekte. Limitierend, weil die Grenzen zwischen Inklusion und Exklusion festgelegt werden und somit bestimmten Personengruppen der Zugang zu einem gewissen Raum verweigert wird. Hier haben ungleiche Machtverhältnisse auch diskriminierende Auswirkungen. Doch die ermächtigenden Effekte dürfen nicht außer Acht gelassen werden: Auf staatlicher Ebene zum Beispiel bedeutet die individuelle Identifizierung auch Zugang zu Bürgerrechten, wie zum Beispiel Sozialleistungen, und eben nicht nur staatliche Kontrolle.
3. Gibt es eine moralische Grenze der Identifizierbarkeit von Menschen?
Ich würde sage, es gibt keine konstante moralische Grenze, sondern moralische Grenzen, die von Zeit zu Zeit variieren können, je nach gesellschaftspolitischem Kontext. Zwei Aspekte sind daher wichtig für die Beurteilung: Erstens, das Ziel der Identifizierung – werden zum Beispiel bestimmte Menschengruppen durch die Identifizierungsmaßnahmen stigmatisiert oder kriminalisiert – und zweitens, mit welchen Techniken bzw. Maßnahmen werden Menschen identifiziert. Ist es zum Beispiel notwendig die Fingerabdruck-Datenbank, die die Daten aller Asylwerber ab 14 Jahren enthält, mit der Datenbank Straffälliger abzugleichen?
4. Ein Gedankenspiel: Würde es heute noch jemandem gelingen eine vollkommen erfundene, neue Identität aufzubauen?
Absolut! Was bedeutet denn, eine Person zu identifizieren? Es ist ein Abgleich verschiedener Datensätze, die von einer Person zu unterschiedlichen Zeit erstellt wurden und ihr zugeordnet werden. In dem Moment, wo bei der Meldebehörde mein Datensatz unter einem anderen Namen neu angelegt wird, habe ich eine neue Identität. Bei einem solchen Fall helfen auch keine biometrischen Verfahren: Mein (neues) Lichtbild wird nun einfach einem anderen Namen zugeordnet. Die Koppelung von biometrischen Daten und Person ist wesentlich fragiler, als wir gemeinhin denken, die Lücke zwischen Mensch und Dokument keineswegs geschlossen. Versuche eine neue Identität aufzubauen gibt es daher häufig: Asylwerber, die ihre Ausweisdokumente vernichten, um eine Abschiebung zu verhindern, oder Zeugenschutzprogramme.
Daniel Meßner, geboren 1979 in Regensburg. Nach dem Studium der Geschichte und Philosophie an den Universitäten in Regensburg und Wien arbeite ich seit 2010 als Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Geschichte an der Universität Wien. In meiner Dissertation erforsche ich die Ausverhandlungssprozesse um die Identitifzierungstechniken Fotografie, Anthropometrie und Daktyloskopie im Kontext der Entstehung von Erkennungsdiensten um 1900. (http://identifizierung.org)
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