Wieso „220 minus Lebensalter“ nicht funktioniert – oder doch?

Wieso „220 minus Lebensalter“ nicht funktioniert – oder doch? Jeder kennt sie! Viele verwenden sie! Sogar jedes Fitnessgerät wendet die Formel als allgemeine Trainingsempfehlung an: ausgehend von der maximalen Herzfrequenz unter Berücksichtigung des Alters, werden die unterschiedlichen Trainingsintensitäten berechnet. Und wie sehr kann man sich darauf verlassen?
In Wirklichkeit können die Ergebnisse dieser Berechnung  sehr weit von der Realität auseinander liegen. Deshalb möchte ich im heutigen Beitrag etwas wissenschaftlicher werden und die Probleme dieser Faustformel näher betrachten, bevor wir dann zur eigentlichen Ermittlung der Trainingsbereichen weitergehen können.
Klar ist, dass sich die Herzfrequenz im Laufe des Lebens verändert. Man ist draufgekommen, dass auf Grund der körperlichen Veränderungen im Alter (Gewebsveränderungen, Einlagerung von Kollagen, erniedrigte Flexibilität der Organe,…) auch die maximale Herzfrequenz erniedrigt wird. Übern Daumen gerechnet verlieren wir etwa 1 Herzschlag pro Lebensjahr. Das heißt, dass eine 30jährige Person mit einer maximalen Herzfrequenz von etwa 190 Schlägen pro Minuten rechnen kann, eine 70jährige mit etwa 150 Schlägen.

Kritiker argumentieren aber, dass der Faktor Geschlecht einen bedeutenden Einfluss hat, aber auch der Abfall mit dem Alter etwas überbewertet ist. Selbst ich konnte in meiner Arbeit (zwar nicht empirisch, aber doch) feststellen, dass tendenziell ältere Personen bei einer Ausbelastung eine höhere Herzfrequenz erreichen als eigentlich nach dieser Fausformel erwartet wäre. Wie sieht es nun wirklich aus?

Wieso „220 minus Lebensalter“ nicht funktioniert – oder doch?

Berechnungsmethoden im Vergleich

Bereits im Jahre 2001 wurde eine beeindruckende Metaanalyse (Zusammenfassung von mehr als 350 Studien mit knapp 20.000 Studienteilnehmern, die dann untereinander verglichen wurden) veröffentlicht, die zu dem Schluss gekommen ist, dass der HF-Abfall im Alter langsamer verläuft als ursprünglich angenommen. Und weitere Studien konnten dies (selbst mit vollkommen anderen Settings und Berechnungsmethoden) in den letzten Jahren bestätigen. Interessant dabei ist, dass in diesen Studien der Faktor Geschlecht überhaupt keinen bzw. vernachlässigbar kleinen Einfluss hatte! Die Wissenschafter sind somit auf folgende Formel gekommen: Maximale Herzfrequenz = 208 – 0,7 * Lebensalter Was bedeutet dies nun für unser Training? In der Abbildung sieht man deutlich, dass wir bisher eigentlich mit einem zu starken Herzfrequenzabfall im Alter gerechnet haben. Bis etwa zum 30. Lebensjahr ist die neue Empfehlung etwas niedriger, ab dem 50. Lebensjahr jedoch etwas höher als bisher. Fazit Wissenschaftliche Studien sind sehr wichtig, um zu verstehen wie unser Körper generell funktioniert und um Erklärungen und Ansätze zu finden wie man, speziell für uns Sportler interessant, Körpersysteme beeinflussen kann.  Doch was bringt es, wenn ich genau weiß, dass ich laut neuesten Erkenntnissen mit einem um exakt 2 Schlägen niedrigeren Puls trainieren soll, wenn die individuelle Streuungsbreite bei etwa 30% oder 60 Pulsschlägen liegt! 

Wieso „220 minus Lebensalter“ nicht funktioniert – oder doch?

Streudiagramm HFmax

Dieses Streudiagramm zeigt nämlich die einzelnen Maximalwerte der Teilnehmer der oben erwähnten Studie. Die durchgezogene Linie ist der Mittelwert (man sieht, dass die Linien für Männer und Frauen annähernd parallel verlaufen). Betrachtet man die einzelnen Individuen, so findet man auch Werte für 45jährige mit 220 Schlägen und Werte für 30jährige von 165 Schlägen. Wie die Herzfrequenzkurve des Titelfotos zeigt, erreicht dieser Sportler (männlich, 32 Jahre) eine maximale Herzfrequenz von 217 Schlägen. Wenn er nach einer allgemeinen Berechnung trainieren sollte, wäre er in jeder Hinsicht unterfordert!

Für die Praxis ist es somit egal, welche dieser oben angeführten Formeln zur Anwendung kommt – die neuere Formel liegt vielleicht genauer am Mittelwert. Beide können sowohl richtig als auch vollkommen falsch sein, weil der menschliche Körper noch immer etwas Spezielles ist und bleibt...zum Glück! Derartige Faustformeln können ein guter Richtwert für ein Training sein und sind vor allem für Anfänger sehr hilfreich und meiner Meinung auch empfehlenswert. Wenn man aber auf Nummer sicher gehen will, dann sollten die eigenen Trainingsbereiche mittels einer Leistungsdiagnostik ermittelt werden. Und da gibt es auch wieder viele do’s und donts…


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