Es ist bemerkenswert, wie in der deutschen Öffentlichkeit auf Wirtschaftskriminalität in Rußland reagiert wird. Während russische Geschäftsleute, die in der EU investieren oder Geld anlegen, meist per se des unrechtmäßigen Handelns bezichtigt werden (siehe Zypern), mutieren dieselben Typen, sobald sie Ärger mit der rußländischen Justiz haben, zu "Kremlkritikern" und "politisch Verfolgten". Aus Leuten, die man erst kollektiv als große Gauner darstellt, werden urplötzlich Heilige, die man als guter Deutscher unbedingt unterstützen muß.
So etwa geschehen im Fall des Moskauer Bankiers Sergej Borodin (auf der Wikipedia-Seite wird auch seine "Leidensgeschichte" erzählt). Er hat sich, nachdem 2011 in der RF ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden war, nach Großbritannien abgesetzt und verbreitet seither seine Version der Geschichte von "politischer Verfolgung". London ist mittlerweile zum Sammelpunkt zahlreicher rußländischer Wirtschaftskrimineller geworden, von denen der kürzlich verblichene Boris Beresowskij der bekannteste war. Sie stehen dort unter dem Schutz der britischen Regierung, genießen ihren Reichtum und dürfen sich als "politische Flüchtlinge" gerieren und gegen den außenpolitischen Feind der Briten - Rußland, ihre Heimat - agitieren.
(So war es schon im 19. Jahrhundert während des Krimkrieges. Damals war schrieb der Sozialist Alexander Herzen Pamphlete, welche die russischen Soldaten auf der Krim zum Überlaufen zu den Briten motivieren sollten.)
Zumeist ist die westliche Presse geneigt, diesen einseitigen Erzählungen Glauben zu schenken, frei nach dem Motto "Der böse Putin ist immer schuld". Dumm nur, wenn die Justiz anderer Länder zu denselben Schlußfolgerungen kommt wie die des angeblich "neo-sowjetischen Unrechtsstaates" Rußland. So geschehen im Fall Borodin. Im Mai diesen Jahres hat ihn ein Schweizer Gericht des Betruges und der Geldwäsche für schuldig befunden.
Auch für den zum Helden stilisierten Michail Chodorkowskij sind seine Gerichtsauftritte in Europa bisher negativ ausgegangen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in mehreren Verfahren festgestellt, daß seine Strafverfolgung nicht politisch motiviert war und damit die Entscheidungen der rußländischen Gerichte in der Sache weitgehend bestätigt. Lediglich einige prozessuale Aspekte wurden vom EGMR gerügt.
Doch diese Gerichtsentscheidungen fechten unsere Journalisten und Politiker nicht an. Sie kämpfen weiter gegen Rußland, seine Gesetze und Gerichte. Und schrecken dabei - wie üblich - nicht vor Falschinformationen zurück. So berichteten gestern mehrere Medien höchst pikiert, das Twerskij-Gericht in Moskau habe gestern mit Sergej Magnizkij angeblich einen Toten "verurteilt" - so die Wortwahl mehrerer Zeitungen. Dem ist natürlich nicht so, denn in der Rußländischen Föderation finden keine Leichenprozesse statt. Gemäß Artikel 24 Abs. 1 des Strafprozeßkodex' können Verstorbene strafrechtlich nicht belangt werden. Folglich hatte die Staatsanwaltschaft im vorliegenden Fall auch die Einstellung des Verfahrens beantragt.
(Alles andere wäre auch Unsinn und nur einige rußländische "Menschenrechtler" aus den Reihen von Memorial fordern bizarrerweise Strafprozesse gegen Tote.)
Doch gab es in dem Strafverfahren noch einen zweiten Angeklagten, der quieklebendig ist und in Großbritannien lebt: William Browder, für dessen Investmentfond Hermitage Capital der Jurist Magnizkij als Buchhalter gearbeitet hatte, wurde in Abwesenheit wegen Steuerbetruges zu neun Jahren Haft verurteilt. In diesem Zusammenhang mußte sich das Gericht naturgemäß auch mit der Rolle Magnizkijs beschäftigen, der der eigentlich Handelnde gewesen war. Und somit finden sich im Urteilstext Bemerkungen über seine Schuld.
Daraus einen Skandal zu machen, ist schon sehr gewagt. Auch Verurteilungen in Abwesenheit - wie im Fall Browders - sind in einigen europäischen Staaten üblich (z.B. in Frankreich). Wenn sich ein Angeklagter dem Zugriff des Gerichtes entzieht (und vielleicht nicht einmal einen Rechtsanwalt entsendet), muß eben aufgrund der Aktenlage und vorhandener Zeugen entschieden werden. Das macht weder aus Frankreich noch aus Rußland einen Unrechtsstaat.
Im Prozeß ging es um eine interessante Möglichkeit der Steuerersparnis, die - wäre sie in Deutschland passiert - unsere linken Medien massiv auf den Plan gerufen hätte: Magnizkij hatte laut Gericht im Auftrag seines Arbeitgebers bei zwei Gesellschaften mit beschränkter Haftung in Kalmückien Beschäftigungsverhältnisse für behinderte Menschen fingiert, um so zu Unrecht in den Genuß von Steuererleichterungen zu kommen, die es in der RF wie andernorts für die Eingliederung Behinderter in das Berufsleben gibt. Die Staatsanwaltschaft bezifferte den Steuerausfall auf umgerechnet rund 13 Mio. €.
Für Browder war es übrigens nicht die erste Kollision mit der rußländischen Justiz. Bereits im März 2013 wurde gegen ihn wegen Unregelmäßigkeiten im Aktienhandel ein Haftbefehl ausgestellt. Die inkriminierten Handlungen Browders und seiner Angestellten/Komplizen sollen bis ins Jahr 1999 zurückreichen; sie waren 2007 aufgeflogen.
Doch Browder muß sich darum nicht kümmern. Er sitzt warm und trocken in London und ignoriert die Strafverfolger demonstrativ. Gleichwohl hat er in den USA durch massives Lobbying politische Unterstützung gewonnen (Stichwort: Magnitsky Act) und stellt sich so als politisch Verfolgten dar, als ein lauterer Geschäftsmann, dem der böse Diktator aus dem Kreml ans Leder will. Da Rußland strafrechtlich nicht an ihn herankommt, versucht man es jetzt in London auf zivilrechtlichem Wege. Mal sehen, was dabei herauskommen wird. Vielleicht ein zweiter Borodin?
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