Wie wird man eigentlich bisexuell?

Mit 13-14 Jahren hatte ich zum ersten Mal den Verdacht vielleicht doch nicht ganz so heterosexuell zu sein wie ich es bis zu diesem Zeitpunkt angenommen hatte. Damals schrieb ich noch regelmäßig in mein kleines, pinkes Tagebuch und ich erinnere mich noch ziemlich genau an meinen Eintrag:

Umrandet von Herzchen, Glitzeraufklebern und diversen kleinen Bildchen von Schauspielern, die ich aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte, standen die Worte:

BIN ICH BI???

Ich konnte einfach nicht ignorieren, dass ich nach dem Sportunterricht in der Umkleidekabine gerne heimliche Blicke auf die anderen Mädchen geworfen habe. Auf Geburtstagsfeiern ekelte mich der Gedanke, beim Flaschendrehen ein weibliches Wesen zu küssen, bei Weitem nicht so sehr an wie die anderen. Doch deswegen gleich lesbisch? Nein, denn die Jungs fand ich mindestens ebenso faszinierend. “Was” genau war ich also?

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einige Stunden Sexualkunde hinter mir. Das erste Mal in der 4. Klasse, wo den Schülern noch brav das Ideal Vater-Mutter-Kind präsentiert wird, und später in der Unterstufe im Rahmen des Biologieunterrichts. Hier wurde immerhin die Möglichkeit erwähnt, dass eine Beziehung nicht unbedingt aus zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts bestehen muss. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich in diesem Bereich aber schon mithilfe des Dr. Sommer-Teams weitergebildet.

Ich wusste also, dass es Menschen gibt, die sich entweder zum anderen oder zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen. Aber beides? Ich blätterte wie wild alte Ausgaben der Bravo durch, auf der Suche nach der Existenz von menschlichen Wesen, die mindestens genauso verwirrt waren wie ich. Und ich wurde fündig. Es handelte sich um einen Artikel zum Thema Sexualität in der Pubertät. Verhütung hier, AIDS da und mittendrin schließlich: Bisexualität. In einem Satz kurz erwähnt und, wie ich später feststellen musste, komplett falsch erklärt. Bisexuell, so die damalige Bravo, ist eine Person, die sich gleichermaßen zu Männern und Frauen hingezogen fühlt. Jetzt wird sich der ein oder andere vielleicht fragen, was an der Aussage denn so falsch ist. Nun, zum einen gibt es mehr Geschlechter als nur Männer und Frauen. Zum anderen stört mich der Ausdruck “gleichermaßen”.

Bisexualität bedeutet nicht, dass sich jemand genau 50% zum einen und 50% zu einem anderen Geschlecht hingezogen fühlt. Das mag vielleicht auf ein paar Menschen zutreffen, die Norm ist das jedoch nicht. Man kann auch bisexuell sein, wenn man ein Geschlecht klar bevorzugt. Ein schönes Beispiel dafür ist die sogenannte Kinsey-Skala.

kinsey

Quelle: Wikipedia

Die Skala reicht von “Ausschließlich heterosexuell” zu “Ausschließlich homosexuell”, mit einer extra Kategorie für Personen, die sich als asexuell identifizieren. Nach der oben genannten Definition von Bisexualität müsste es eigentlich nur 4 Felder geben: 0, 3, 6, und X. Man sieht aber, dass Bisexualität wesentlich vielfältiger ist.

Leider setzt diese Skala bereits vorhandene sexuelle Erfahrungen voraus und das bringt mich auch gleich zu einer Frage, die ich mir häufig anhören muss:

“Woher wusstest du, dass du bi bist, bevor du mit einer Frau geschlafen hast?”

Gegenfrage:

“Woher wusstest, dass du hetero bist, bevor du mit einer/m Frau/Mann geschlafen hast?”

Im deutschsprachigen Raum scheint es leider kaum Webseiten zu geben, die zu diesem Thema aufklären, doch die britische Seite Bisexual Index macht auf diesem Gebiet einen guten Job. Es gibt sogar eine eigene Unterseite für die Frage “Am I Bisexual?”. Die Antwort ist ziemlich einfach:

If you’re asking yourself “Am I Bisexual?” then here’s a handy checklist:

Thinking about the people you’ve been attracted to, so far in your life, were they all of the same gender?

If you answered “No”, to any or all of the questions in our list above then we feel it’s okay for you to call yourself bisexual. We don’t care how attracted you are to the genders around you – you’re bisexual as soon as you stop being exclusively attracted to only one sex.

That’s it. It really is as easy as that.

Das bedeutet nicht, dass sich jeder, der diese Frage mit “Nein” beantwortet hat, auch zwingend als bi bezeichnen muss! Mit welcher Sexualität man sich im Endeffekt identifizieren möchte – hetero, bi, asexuell, pansexuell,… – bleibt einem selbst überlassen. Man kann sich, je nach sexueller Orientierung, zu dem gleichen/anderen Geschlecht hingezogen fühlen und trotzdem weiterhin hetero/lesbisch/schwul/… sein! Die Welt ist eben nicht nur schwarz und weiß, es gibt etliche Grauzonen.

Als Teenie war mein größtes Problem, dass so gut wie gar nicht zum Thema Bisexualität aufgeklärt wurde, ob nun in der Schule oder in Zeitschriften, und wenn, dann fand man immer wieder die oben genannte Definition. Ich fühlte mich aber nicht gleichermaßen zu Männlein und Weiblein hingezogen und ich traute mich auch nicht jemanden zu fragen. Unangenehme Themen werden in meiner Familie gerne vermieden und die allgemeine Abneigung von Homosexuellen in der Gesellschaft entging auch mir nicht.

Gerne fügte man in Magazinen bei Artikeln zum Thema außerdem Sätze hinzu wie:

“Die Pubertät ist sehr verwirrend und homosexuelle Neigungen höchst wahrscheinlich nur eine Phase.”

Gut, dachte Teenie-Ich. Dann wird es wohl eine Phase sein. Mit 19 beschloss ich meine “Phase” nicht länger als solche zu akzeptieren. Ich wollte Antworten!

Zum Glück hatte ich mittlerweile Zugang zum allwissenden World Wide Web (ja, ich bin wirklich so alt!). Ich fand also endlich Forenbeiträge von Menschen, denen es so ging wie mir. Also fast. Ich hatte nämlich noch ein ganz anderes Problem.

Schule, Medien, Kirche, Eltern, usw. vermitteln den Eindruck, dass sexuelle und romantische Gefühle Hand in Hand gehen. Also: Ohne Liebe, keinen Sex! Das mag ja für einen Teil der Menschheit zutreffen. Der andere Teil, zu dem ich gehöre, ist jedoch der Meinung, dass diese beiden Empfindungen unabhängig voneinander existieren können.

Mein “Problem” war und ist immer noch, dass ich mich zwar auf emotionaler und sexueller Ebene zu Frauen hingezogen fühle, mich aber nicht in sie verliebe. Während ich mit Frauen zwar eine gewisse Bindung aufbauen kann, die über eine einfache Freundschaft hinaus geht, kommen bei mir jedoch keine romantischen Gefühle auf, wie ich sie aus Beziehungen mit Männern kenne. Für mich käme also eine langfristige “und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende” – Beziehung mit einer Frau zurzeit eher nicht infrage.

Bitte versteht mich nicht falsch! Für mich ist eine Frau kein Steak, dessen Reste ich wegwerfe, wenn mir nach einiger Zeit dann doch wieder der Sinn nach Bratwurst steht. Meiner Meinung nach ist es ok, keine langfristige Beziehung mit dem gleichen (natürlich auch dem anderen) Geschlecht eingehen zu wollen, solange man das dem potenziellen (Sexual-)Partner mitteilt und nicht irgendwelche Spielchen spielt! In diesem Fall weiß euer Gegenüber direkt auf was er sich einlässt und kann für sich selbst entscheiden, ob für ihn eine Beziehung ohne Zukunft ok ist.

Mir stellte sich also die Frage: Bin ich eigentlich “richtig” bisexuell? Darf ich mich überhaupt einfach so als bisexuell bezeichnen? Kränke ich die “echten” Bisexuellen, wenn ich mich als bi bezeichne, obwohl ich keine langfristige Beziehung mit einer Frau eingehe? Dazu kam die Frage: Nimmt man mich in LGBT-Kreisen überhaupt ernst? Zumindest darauf hatte ich schnell eine Antwort: Jein.

Ich bin auf einer deutschsprachigen Seite für hauptsächlich homosexuelle, aber auch transsexuelle und bisexuelle Frauen angemeldet und bin dort bisher noch keinen “Bi-Hatern” begegnet. Das ändert sich, wenn man in englischsprachige Foren unterwegs ist. Ich möchte hier keiner Nationalität irgendetwas unterstellen, aber ich konnte beobachten, dass vor allem amerikanische homosexuelle Frauen zum Teil einen regelrechten Hass auf bisexuelle Frauen entwickelt zu haben scheinen.

Es gibt sogar ein Video zu diesem Thema: What Lesbians Think About Bisexuals und die Reaktion bisexueller Frauen darauf: Bisexuals Respond to: What Lesbians Think About Bisexuals.

Generell lassen sich die Reaktionen auf Bisexualität in drei Kategorien einteilen: “Es ist nur eine Phase.”, und “Du willst dich doch nur wichtig machen!”, bevorzugt verwendet vom heterosexuellen Teil der Gesellschaft, während der homosexuelle Teil uns gerne unterstellt, dass wir eigentlich alle schwul/lesbisch seien und einfach nur die Vorzüge einer Gesellschaft genießen wollen, in der Heterosexualität die Norm ist.

Ich könnte mich jetzt noch endlos zum Thema Bisexual Erasure und Bi-Invisibility auslassen, doch das bietet schon wieder genug Stoff für einen neuen Artikel.

Während ich also Antworten auf all meine Fragen suchte, stellte ich fest: Es gibt keine richtige Art bisexuell zu sein! Wenn du dich mit dieser Bezeichnung wohlfühlst: Super! Es ist egal, was andere sagen, solange du dich wohlfühlst! Du kannst bisexuell sein und nie eine Beziehung zum gleichen Geschlecht haben! Das ändert nichts an deinen Gefühlen. Du kannst deine Bisexualität ausleben oder auch nicht. Du musst niemanden was beweisen!

Wir leben in einer, von Heterosexuellen dominierten Welt. Alles, was davon abweicht fühlt sich seltsam an. Anders. Wir haben den Eindruck, dass wir uns vor den “normalen” Menschen rechtfertigen müssen, weil wir nicht der Norm entsprechen. Und viele Menschen erwarten tatsächlich einen Beweis für unsere Sexualität. Deine Sexualität geht nur dich was an und sonst niemanden!

Der Post ist ein wenig länger geworden als geplant. Ich möchte nur schreiben, wie es mir ergangen ist, in der Hoffnung, dass ich irgendwann mal einer verwirrten Seele damit ein wenig weiterhelfen kann.

Für weitere Informationen kann ich den oben erwähnten Bisexual Index wirklich empfehlen! Das deutsche bisexuelle Netzwerk BiNe bietet u.a. eine FAQ Seite an, auf der viele Fragen beantwortet werden.

Vielen Dank fürs Lesen! :)

carrie


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