Wie wird Anatolien islamisch und türkisch? Teil 1


Manche stellen sich vor, dass die türkischen Reiter"horden" um 1000 n. Chr. aus dem Osten kamen, die Byzantiner in einer Schlacht hinwegfegten, und mit dieser Schlacht auch gleich alle Einwohner Anatoliens ins Nichts verschwanden. Diese Vorstellung mag bei so manchem türkischen (Ultra-)Nationalisten verbreitet sein, der am liebsten seine direkten Ahnenreihe in einer Linie zum Altay-Gebirge in Zentralasien sehen würde.
Interessanterweise hat er diese Sichtweise gemeinsam mit rechtspopulistischen Islamfeinden, die am liebsten Muslime in besonders simpel gestrickten und blutrünstigen Bildern sehen mögen, um Nahrung für ihr Feindbild Islam zu erhalten.
Und ebenso sehen es nicht wenige griechische Migranten oder Griechen mit nationalistischer Gesinnung so, dass die heutigen Türken vor allem Fremde von Aussen seien, die griechisches Territorium unberechtigterweise an sich gerissen hätten (ohne jedoch zu fragen, wer denn vor der griechischen Invasion (eurozentristisch oft "Kolonisation" bezeichnet) in Anatolien lebte.).

Dabei sind in Wirklichkeit die Mehrzahl der heute in der Türkei lebenden Menschen Nachkommen der anatolischen (griechischsprachigen) Vorbevölkerung. Dieses scheint im öffentlichen Bewusstsein der obigen Gruppierungen nur schwer vermittelbar zu sein.

Darum hier mal einen Überblick, wie Anatolien im Laufe von Jahrhunderten mehrheitlich islamisiert und türkischsprachig wurde. Denn wer die Geschichte kennt, kann die Gegenwart besser verstehen:

  • Warum gibt es in einigen Regionen des ehemaligen Osmanischen Reiches mal mehr, mal weniger Muslime (vor den Vertreibungen, Massakern, usw. der Unabhängigkeitskriege des 19./20. Jh.)?
Die Völker in Anatolien sind nach der Eroberung durch die Seldschuken nicht ausgestorben, weil sie auf eroberten Grund weiter leben durften, statt vertrieben, versklavt, vernichtet, usw. zu werden. Es hinderte die Völker niemand daran, eine allmähliche Assimilation zu durchlaufen, je länger sie unter islamischem Einfluss waren, desto mehr assimilierten sie sich. In Anatolien finden sich z.B. folglich weniger Christen im Laufe der Jahrhunderte, als auf der griechischen Morea. In Bulgarien, Mazedonien, usw. finden sich mehr Turkophone vor den Unabhängigkeitskriegen des 19. Jahrhunderts, als in Ungarn oder Herzegowina, wo z.B. die Osmanen in Ungarn nur 175 Jahre geherrscht hatten, im Gegensatz zu Mazedonien, wo die Assimilation 500 Jahre Zeit hatte, oder gar Zentralanatolien, wo die Assimilation 1000 Jahre Zeit hatte. Dieses nur als ganz grobe Richtschnur.
  • Waren alle Turkvölker, die in Anatolien einwanderten ausschließlich Reiternomaden?
Höchst unwahrscheinlich, denn es gibt neben dem verbreiteten Reiternomadismus in jener Zeit ebenso Ackkerbau durch Turkvölker, und das sogar in komplexer Form, also inkl. Bewässerungstechniken, wie Kanalbau, Wasserhebewerke, usw. Der Ackerbau reicht im Übrigen bis ins 5. bis 4. Jahrtausend vor Chr. zurück.
Beispielsweise seien die türkischen Usbeken, die Tadschiken und einige Gruppen der Turkmenen erwähnt, wo bei letzteren ganze Gruppen (die als „Chomur" bezeichnet wurden) Ackerbau betrieben haben, neben dem Nomadismus.
Für Turkestan ist laut KALTER typisch, dass in denselben ethnischen Verbänden vollnomadische, halbnomadische und sesshafte Gruppen nebeneinander vorkommen.
Der Übergang zur Sesshaftigkeit erfolgte z.B. dadurch, dass militärisch überlegene Nomadengruppen Bauernland eroberten oder dass sie die Herdenerlöse in Landkäufe investierten. Umgekehrt konnte auch die sesshafte Bevölkerung wieder zu einer nomadischen Lebensweise zurückkehren, z.B. als Folge von Überbevölkerung des Ackerlandes, als Folge der Zerstörung oder des Verfalls der Bewässerungsanlagen, Ausbleiben von Niederschlägen in den Regenfeldbaugebieten.

aus: Einführung in die Ethnologie Zentralasiens. Uni-Skript 2003

Diese wurden vielleicht teilweise schon in hethitischer Zeit, dann als Schutz vor römischen Verfolgungen durch die frühen Christen, und dann in Folge der Feldzüge der persischen Sassaniden, Hunnen und Isaurier errichtet. Später dann boten sie auch Schutz, als die Araber durchritten und ihre Razzien/Beutezüge durchführten. Oder boten Schutz in innerbyzantinischen Kämpfen und Streitereien

  • Wurden nicht die berühmten Höhlen in Zentralanatolien in Kappadokien als Schutz vor den "barbarischen" Türken errichtet?
Da gab es noch gar keine Türken in der Nähe, als diese in Kappadokien errichtet wurden!
vor der Schlacht von Manzikert (1071), als erstmalig die Türken eine Rolle in Anatolien spielten.
    Und wie ging es nach der Schlacht von Manzikert 1071 n. Chr. weiter?
Dass die Türken (Seldschuken) keinesfalls nur als Nomaden nach Anatolien einwanderten, zeigt allein die Tatsache, dass sie relativ rasch die städtischen Zentren einnahmen um in deren Schutz Herrschaftssitze zu errichten und unter dem Schutz der Mauern der Stadt vor diesen Ackerbau betreiben konnten. Noch gab es nämlich nicht eingenommene byzantinische Städte, die wie Inseln im seldschukischem Reich waren und Vorstöße (also Feldzüge) tätigten. Ausserdem ist belegt, dass neben den Bauern, die einwanderten, auch turkophone Städter aus Zentralasien und Iran einwanderten, was sich in einer sehr raschen Blüte der städtischen Kultur ausdrückt, die sich eben nicht von Null an entwickeln musste.
Das relativ flache Hochland eignete sich sehr gut für die Viehwirtschaft, bzw. das Nomandentum, war es doch recht dünn besiedelt, weil zuvor in innerbyzantischen Streitereien und durch die arabischen Razzien die Besiedlungsdichte zurückging. Trotzdem boten nicht allen mitgewanderten türkische Nomaden diese Städte und ihr bäuerliches Umland ihre bevorzugte Lebensgrundlage, wenn auch etliche sesshaft wurden, und einige deshalb als Nomaden und Halbnomanden in die umliegenden Berge gingen. Etliche hingegen blieben als "bewegliche Elemente" des Staates immer ein gewisser Unruheherd, bzw. kaum fassbare steuerpflichtige Untertanen, so dass einige dieser Nomaden "weitergeleitet" wurden an die byzantinische Grenzmark im Westen, wo sie in Raubzügen das fortsetzten, was die Araber zuvor aus Mesopotamien in Richtung Anatolien taten.

Übrigens sind Ost- und Zentralanatolien so rasch erobert worden, dass größere Fluchtbewegungen der Einheimischen in der Forschung als sehr unwahrscheinlich gelten; wie auch die Struktur der Städte dieses nahelegen. Oder altertümliche Dialekte, die man noch im 19. Jahrhundert fand. Zudem zeigen die Überlieferung der Ortsnamen, meistens in ihrer vortürkischen Form, wenn auch türkisch angepasst, eine Bevölkerungskonstanz der Vorbevölkerung, die diese Namen mit in die neue Herrschaftszeit tradierten. Dieses gilt übrigens nicht nur für die größeren Städte, sondern ebenso für kleinere Orte und Dörfer. Wären diese alle leer gewesen, hätten die neuen Einwohner oft nicht den alten Namen übernommen sondern neue Namen verwendet.

Übrigens soll hier keinesfalls beschönigt werden, dass es bei den ersten Eroberungen nicht auch zu Verwüstungen und Massakern gekommen ist. Diese riefen aber keine massenhafte Fluchtbewegung hervor. Soviel wissen wir. Zudem lässt die rasche Etablierung staatlicher seldschukischer Macht in den städtischen Zentren stark vermuten, dass den frisch gegründeten Emiraten mehr an prosperierenden christlichen Steuerzahlern, denn an Massenkonversionen zum Islam gelegen war. Sowieso lagen die Steuersätze der Christen unterhalb dessen, was die Byzantiner ihnen vorher abpressten. Auch wurden die Bauern fortan freier, da die Landsknechtschaft, das byzantinische Feudalssystem, und das Landsklaventum abgeschafft wurden.

Donald Quataert schreibt in seinem Standardwerk auf S. 28 bezüglich der späteren den Seldschuken folgenden osmanischen Herrschaft:

The weakening or end of Byzantine central control in Anatolia and the Balkans often had meant the rise of Byzantine feudal or feudal-like lords who imposed brutally heavy tax burdens. Under the Ottomans, these trends were reversed; Ottoman officials took back under central state control many of the lands and revenues which had slipped into the hands of local lords and monasteries. Overall, the new Ottoman subjects found themselves rendering fewer taxes than they had to the officials of rulers preceding the Ottomans.

Das islamische Schutzgebot gegenüber der nichtislamischen "Buchreligionen" konnte in den Städten und deren Umgebung durchgesetzt werden, fraglich allerdings, ob alle erst "kürzlich" islamisierten Nomaden in peripheren Gebieten diese Schutzgebote vollständig respektierten. Wahrscheinlicher zogen beim jahrtausendealten Konflikt zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit gegebenfalls die Sesshaften öfters den Kürzeren und zogen in oder in die Nähe der Städte. (Später, nach vollständiger Etablierung der Macht der Seldschuken wurden dann diese Weidegebiete manchmal zu Bauerngrund rekolonisiert, siehe unten)

Die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen müssen in seldschukischer Zeit auf vielen Ebenen ausgesprochen gut gewesen sein. So belegen Zeugnisse, dass die Armenier und syrische Christen geradezu dankbar gewesen seien, dass sie nun nicht mehr geistig durch das griechisch-orthodoxe Konstantinopel bevormundet werden konnten - oder gar verfolgt wurden. Aber auch griechisch-orthodoxe Bischöfe konnten in ihren Gemeinden ungestört amtieren und viele scheinen sogar an den Fürstenhöfen nicht unerheblichen Einfluss gehabt zu haben.

In der Oberschicht, auch bei türkischen Fürstenhäusern, gab es bald zahlreiche Verschwägerungen mit griechischen Familien von diesseits und jenseits der Grenze. Diese Beziehungen wurden auch, beziehungsweise vorwiegend zu politischen Zwecken eingesetzt.
Revoltierende byzantinische Prinzen oder Gouverneure flohen zu den Seldschuken und umgekehrt nicht minder. Die Beziehungen zwischen den byzantinischen und seldschukischen Machtzentren waren enger und vielfältiger, als zu denen der islamischen Glaubensbrüder in Syrien.

Claude Cahen spitzt das bewusst etwas in seinem Werk " Pre-Ottoman Turkey: A general survey of the material and spiritual culture and history, c. 1071-1330, Band 1968, Teil 2" zu, wenn er das Verhältnis der Türken zu ihrer noch nicht islamischen Umgebung charakterisiert:

They were Muslims, it is true, but in a certain sense they were integrated more or less consciously into the territory know as Rum, which they might aspire to dominate, though for the reason that they formed a part of it and felt more at home there than in the traditional Dar al-Islam [= Haus des Islam = muslimisch beherrschte Gebiete], even when they were among the infidels...

Dieser Zustand der Toleranz galt allerdings nicht für die nordwestliche Grenzmark, die von beutemachenden Nomaden durchstreift wurde, und wo die Bevölkerung schon eher drangsaliert, zwangsassimiliert oder auch zur Flucht getrieben wurde. (Übrigens, unter den beutemachenden Nomaden und "Abenteurern", gesellten sich nicht wenige byzantinische Grenzgänger hinzu.)

Ausserdem gab es noch Zwangsumsiedlungen im seldschukischen Reich, um Gebiete zu rekolonisieren. So wurden z.B. griechische Bauern aus dem Mäandertal nach Akşehir in Zentralanatolien umgesiedelt. Wahrscheinlich, nachdem der nomadische Einfluss in dieser Region durch die Seldschuken eingedämmt werden konnte.

Die nach der seldschukischen Reichsgründung erfolgte Durchmischung werden noch von anderen Faktoren getragen, wie z.B. die Konversion von vielen Christen zum Islam. Teilweise aus Überzeugung, teilweise aufgrund von gesellschaftlichem Druck, teilweise, um Karriere in bestimmten Bereichen machen zu können, usw. Die Konversion wurde zudem erleichtert, durch die Art, wie damals der Islam teilweise aufgefasst wurde: Dschelal ed-Din Rumi (der Ordensgründer der Tanzenden Derwische von Konya) soll mit seiner mystisch-philanthropischen Interpretation des Islam wahre Massenbekehrungen ausgelöst haben. Egal wie tief die Überzeugungen der Konvertiten auch gewesen sein mögen, offiziell zählten sie nun als Muslime, und wenn sie zudem auch noch zunehmend mehr türkisch sprachen (der Sprache der Sieger), wurden sie bald zu Türken und wenige Generationen später erinnert sich vielleicht auch niemand mehr an deren christliche Vergangenheit.

Aber auch die türkischen Einwanderer waren keinesfalls homogen, wie oben schon geschildert, es gab ebenso Bauern und Städter, und die türkischen Bauern standen den griechischen Bauernnachbarn näher, als den türkischen Nomaden und verbündeten sich und begünstigten somit wiederum die Assimilation. Auch die Nomaden waren keinesfalls homogen. Ihre Bindungen waren viel weniger stark zu ihrem jeweiligem Stamm, als zu einem politischen Führer. Wechselnde Gruppierungen waren demnach keine Ausnahme und begünstigten eine Durchmischung auch durch neu hinzu gekommene junge männliche ehemalige Christen, denen ein Leben in Freiheit, Abenteuer, Reichtum und Ehre als erstrebenswert erschien.

Wenn in Quellen im 12.-14. Jahrhundert ein bestimmter Bevölkerungsteil Anatoliens als "Turkmenen" bezeichnet wird, dann ist damit nicht ein historisches "Volk", sondern eine Lebensform gemeint.

In osmanischer Zeit (ab 14.-15. Jahrhundert) schließlich sprachen die meisten Christengemeinden umgangssprachlich Türkisch, und eine derartige Übernahme der Sprache setzt eine überwiegend türkisch-sprachige Umgebung voraus.

Osmanische Register im 16. Jahrhundert zeigen denn auch noch eine weithin vorhandene christliche Bevölkerung, aber in unterschiedlicher Dichte. Das Gebiet Trapezunt (Trabzon) ist noch zur Hälfte christlich, das Marmaragebiet mit Istanbul hat stattliche Gemeinden, in Zentralanatolien sind noch 10% christlich, dort wo die Seldschuken eben länger geherrscht hatten, als an den Küsten.
An der Ägäisküste ist hingegen das Christentum verschwunden, im Islam aufgegangen oder geflüchtet, erst viel später siedelten sich im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert Inselgriechen und Griechen aus dem griechischem Festland jenseits des Meeres an der kleinasiatischen Ägäisküste an.

Obige Ausführungen kann man näher in: Wolf-Dieter Hütteroth: Türkei. Darmstadt 1982, Wissenschaftl. Länderkunde, Band 21. S. 198 ff. Kapitel " Anatolien wird türkisch und islamisch" nachlesen.

(Bildquelle Wikimedia Commons)


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