Am 26.04 hatten wir den zweiten Termin beim Frauenarzt. Mit dem Baby ist alles super, wir haben auch ein neues Ultraschallbild bekommen und den Mutterpass (den ich erstmal stundenlang durchblättern musste, obwohl da noch gar nicht so viel drin steht). Zum Abschied habe ich einen weiteren Termin in 3 Wochen bekommen, wobei meine Ärztin dann irgendwie fast nebenbei meinte, dass ich mir dann überlegen solle, ob ich die Nackentransparenzmessung (auch Nackenfaltenmessung) machen lassen möchte.
Ich habe über das Thema zwar schon einiges gelesen, dachte aber, dass man vom Arzt nochmal ausführlich aufgeklärt wird. Und irgendwie vergisst man auch sehr schnell, dass das Zeitfenster für diese Untersuchungen nur sehr begrenzt ist und schiebt die Entscheidung dafür oder dagegen immer wieder auf (so geht es mir zumindest). Zum Glück mussten wir es nicht direkt in der Praxis entscheiden und ich soll nun einfach ein paar Tage vor dem Termin anrufen und Bescheid geben wie wir uns entschieden haben (einen Ultraschall wird meine Ärztin an dem Tag so oder so machen).
Nun habe ich mich recht ausführlich mit dem Thema beschäftigt und bin hin- und hergerissen. Auf der einen Seite wird diese Untersuchung von 2/3 der Frauen in Anspruch genommen (unabhängig vom Alter). Klar, nur weil ein Großteil etwas macht, heißt das nicht, dass ich das auch machen muss/will/soll. Auf der anderen Seite wollen doch alle Frauen nur das Beste für ihr Baby und werden sich aus guten Gründen für die Untersuchung entscheiden. Oder? Diese Vermutung gerät allerdings ins Wanken, wenn ich in Zeitschriften lese, dass viele diese Untersuchung als erweitertes „Baby-Fernsehen“ sehen. Das ist es für mich nicht und das ist für mich auch nicht die Entscheidungsgrundlage.
Was spricht also tatsächlich dafür oder dagegen?
Ärzte raten zu dieser Untersuchung, da man hier risikofrei eine Risikoeinschätzung bekommen. Das heißt, man bekommt eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Baby eine Behinderung hat (vorwiegend geht es hier um Trisomie 21, wobei auch Trisomie 13 und 18 erkannt werden, sowie manche andere Fehlbildung). Älteren Frauen wird eher empfohlen diese Untersuchungen in Anspruch zu nehmen, da bei ihnen die Chance auf eine Trisomie erhöht ist. Allerdings liefert die Nackenfaltenmessung (auch in Verbindung mit einem Bluttest) keine Diagnose. Es kann also nicht gesagt werden, dass das Kind tatsächlich behindert ist, es wird lediglich festgestellt, dass das Kind ein erhöhtes Risiko hat.
Bei Quarks und Co. gab es eine schöne Sendung dazu, die verdeutlicht hat, was das bedeutet, das Beispiel möchte ich hier nochmal durchsprechen:
Nehmen wir eine Gruppe von 100.000 schwangeren Frauen. Etwa 180 dieser Frauen tragen ein Kind mit einer Trisomie in sich.
Bei der Diagnose bekommen 162 der 180 die Diagnose, dass das Risiko, dass ihr Kind eine Trisomie hat, erhöht ist. Auf der anderen Seite bedeutet das auch, dass 18 Frauen gesagt bekommen, dass mit ihrem Kind wahrscheinlich alles in Ordnung ist, dem ist aber nicht so.
Was ist aber mit den übrigen 99.982? Knapp 95.000 von ihnen bekommen ebenfalls die Rückmeldung, dass mit ihrem Kind wahrscheinlich alles in Ordnung ist, was bei ihnen zutrifft. Die übrigen fast 5.000 Frauen bekommen hingegen mittgeteilt, dass ihr Kind ein erhöhtes Risiko für eine dieser Krankheiten hat, obwohl die Kinder gesund sind.
Allen Frauen, die ein erhöhtes Risiko haben, wird empfohlen eine Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) oder Plazentauntersuchung (Chorionzottenbiopsie) machen zu lassen, da diese eine tatsächliche Diagnose ermöglichen. Diese Untersuchungen sind allerdings mit gewissen Risiken verbunden: Bei der Fruchtwasseruntersuchung rechnet man mit etwa 0,6 bis 2 Prozent Fehlgeburten ausgelöst durch die Untersuchung.
In der Regel lässt etwa die Hälfte der Frauen mit auffälliger Nackenfaltenmessung (2.500 in unserem Beispiel) diese weitere Untersuchung durchführen. Dadurch werden zum einen die Fälle, in denen ein Kind tatsächlich eine Trisomie hat, richtig erkannt, zum anderen kommt es aber auch zu etwa 15 bis 50 Fehlgeburten (das ist der Bereich von 0,6 bis 2%, die wirkliche Zahl liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen). Heißt: es gibt unter Umständen 15 bis 50 Frauen, die ein gesundes Kind aufgrund dieser Untersuchung verlieren.
Ich finde diese Zahlen schrecklich. Und ich frage mich dann auch, was ich machen würde, wenn ich gesagt bekommen, dass mein Baby ein erhöhtes Risiko für eine dieser Krankheiten hat. Würde ich die Fruchtwasseruntersuchung machen lassen? Würde ich das Risiko eingehen ein gesundes Kind zu verlieren, um die Möglichkeit dass mein Kind behindert ist, ausschließen zu können? Oder würde ich einfach darauf vertrauen, dass ich zu der überwiegenden Mehrheit gehöre, die dennoch ein gesundes Kind hat (man erinnere sich: 180 im Gegensatz zu fast 5.000!)?
Fräulein 0.2 hat dazu einen Beitrag bei sich veröffentlicht, in dem ein für mich ausschlaggebender Satz steht:
„Bis 35 ist die Wahrscheinlichkeit größer, sein Kind bei einer FU [Fruchtwasseruntersuchung] zu verlieren als dass es Trisomie 21 hat.
Ab 35 ist die Wahrscheinlichkeit grösser, ein Kind mit Trisomie im Bauch zu tragen als es bei einer FU zu verlieren.“
Ich bin 26. Was heißt das also für mich?
Mittlerweile gibt es auch einen Bluttest, der sehr sicher bestimmen kann ob ein Kind eine Trisomie hat oder nicht und der mit keinen Risiken für das Kind verbunden ist. Dieser Test muss jedoch selbst bezahlt werden und kostet etwa 500 Euro.
Und dann ist da noch die Frage danach, was man macht, wenn das Kind tatsächlich eine Behinderung hat
Und das ist wahrscheinlich die ausschlaggebende Frage, wenn man darüber nachdenkt, ob man diese Untersuchung machen lassen möchte oder nicht. Wenn ich weiß, dass ich mein Kind behalte, egal ob es gesund ist oder nicht, dann brauche ich diese Untersuchung eventuell gar nicht machen.
Ich hasse diesen Aspekt. Ich muss sagen, dass ich mir wünschte, diese Entscheidung gar nicht treffen zu können. Manchmal frage ich mich tatsächlich, ob eine Welt tatsächlich so toll ist, in der wir entscheiden, wer das Recht hat zu leben und wer nicht – eine Welt, in der wir Eltern aufbürden diese Entscheidung treffen zu müssen.
95% der Frauen und Eltern, die die Diagnose bekommen, dass ihr Kind behindert ist, lassen es abtreiben. Wozu führt das? Dass Kinder und letztendlich auch Menschen mit einer Behinderung immer mehr zu einer Randgruppe werden? Dass Eltern, die sich für ein behindertes Kind entscheiden unter Umständen zu hören bekommen „Dass sie es sich ja ausgesucht haben“? Dass unser Anspruch an Perfektion immer ausufernder wird?
Ich verurteile niemanden, der sich entschließt sein Kind aufgrund einer solchen Diagnose abzutreiben. Ich würde es vielleicht selber machen und ich bin mir sicher, dass keine Mutter und kein Vater dies leichtfertig entscheidet. Was ich mich frage ist, ob diese Untersuchung wirklich ein Segen ist oder nicht doch ein Fluch. Was wäre denn, wenn wir einfach nicht wüssten, ob unser Kind behindert ist oder nicht? Wenn sich die Frage „behalten oder abtreiben“ nicht stellt, einfach, weil wir nicht erfahren, ob das Kind gesund ist oder nich? Sollte es in unserer Gesellschaft nicht vielmehr Ziel sein ALLE Menschen zu integrieren, sie anzunehmen und miteinander zu leben – egal ob sie gesund oder behindert sind?
Vielleicht sind nicht behinderte Kinder das Problem, sondern unsere Gesellschaft
Aber in unserer Gesellschaft ist es ja schon schwer mit gesunden Kindern zu „bestehen“. Job, Kinder und Haushalt, dieser Balanceakt raubt viel Kraft. Noch mehr Kraft brauchen Eltern von behinderten Kindern, denn aus meiner Erfahrung als Erzieherin weiß ich: für behinderte Kinder gibt es oft keinen Platz. Da, wo alles nach Plan laufen muss, alle Kinder in Reih und Glied sein müssen, damit das Ganze überhaupt funktioniert, da haben Kinder mit besonderen Bedürfnissen keinen Platz.
Ich kenne Mütter, die Kinder mit solchen Bedürfnissen haben und die jeden Tag kämpfen. Die darum kämpfen, dass ihr Kind einen Kindergarten besuchen kann. Die darum kämpfen, dass ihr Kind einen Schulabschluss machen darf. Deutschland rühmt sich der „Integration“, doch im Alltag ist das oft eine schillernde Seifenblase, die zerplatz sobald ein Kind an der falschen Stelle niest.
Und ich habe gesehen wie schwer es für die Kinder ist. Dass sie weinen weil sie nicht verstehen, dass sie an etwas nicht teilhaben dürfen. Dass sie merken, dass sie irgendwie anders sind als andere Kinder. Dass sie fühlen, dass sie Ansprüche nicht erfüllen können und nicht in die Norm passen. Trotzdem lieben auch sie ihr Leben, ihre Eltern, ihre Freunde – manchmal mit einer Hingabe und Selbstlosigkeit, die vielen Erwachsenen schon lange verloren gegangen ist.
Ich bin gerade sehr traurig. Ich lese diesen Text, weiß wie es ist und sehe, wie ich selber Teil dessen bin. Dass ich denke „lieber die Untersuchung machen lassen. Ein behindertes Kind würde mich überfordern.“. Ich tue mich schwer mit dieser Entscheidung und langsam bekomme ich einen ersten Eindruck davon, was es heißt, wenn man plötzlich nicht mehr nur für sich selbst die Verantwortung übernehmen muss.