Wie Sprechende Medizin durch Zuhören wirkt

Von Kinderdok

Der erste Kontakt

Die ersten Sekunden beim Betreten des Untersuchungszimmers sind für ÄrztInnen die entscheidenden, wie in jeder anderen Situation, in der man Menschen trifft: In Interviews, beim Flirten, auf der Strasse. So auch in der Arztpraxis. Wie trete ich auf, wie öffne ich die Tür, was geschieht genau jetzt? Mit meinen kleinen Patienten ist das ebenso: Sie checken in den ersten Sekunden, was passiert. Du kannst zwar im Laufe der Konsultation noch dieses oder jenes aufholen, aber der erste Eindruck ist prägend.

So ist es auch mit der Sprache. Was kommt am Anfang? Eine Begrüßung. Sie sollte freundlich sein, sie sollte offen sein, sie sollte alle im Raum umfassen. Das geht mit einer Geste, das geht mit einem Händedruck an alle (die Kinder zuerst), immer mit einem Lächeln auf den Lippen.

Dann aber muß ich wissen, muß erfahren, muß Dinge erfragen. ÄrztInnen können das mit geschlossenen Fragen (wie stark, wie lange, wie sehr, seit wann, wo), auf die sie geschlossene Antworten bekomme. Viel eleganter ist es, offen zu beginnen (um was geht es, warum sind Sie heute hier, was bedrückt Sie), aber das braucht Geduld. Und die haben wir ÄrztInnen meist nicht. Wir denken, wir erreichen mehr, wenn wir zack zack zack die wichtigsten Punkte abarbeiten, um ans Ziel zu kommen.

Nach ca. 19 Sekunden unterbricht ein/e Arzt/Ärztin im Schnitt sein Gegenüber, um etwas nachzufragen. Damit behindert er/sie den freien Redefluss, vermeintlich, um das Gespräch zu strukturieren, abzukürzen, zu rationalisieren. Dabei würde der Patient gar nicht so lange reden. In einer Dissertation von 2009 konnte T. Bär nachweisen, dass die wenigsten Patienten – offen befragt – länger als 1,5 Minuten monologisieren, im Schnitt lediglich 60-70 Sekunden. Vermutlich erfahren ÄrztInnen in dieser Zeit mehr, als wenn sie durch Fragen die Gedanken des Patienten auf falsche Wege führen.

Wie ist das in der Kinderarztpraxis?

Tja, bei uns gibt es Patienten, die nicht so einfach auf das Muster Frage und Antwort reagieren, bei uns gibt es a) Eltern und b) – hallo? – Kinder, die stets anders ticken. Aber eigentlich können wir Kinderärzte das hier genauso machen: Erst einmal reden lassen.

Also kommt nach der Begrüssung (wie gesagt, erst Kind, dann Eltern) die Frage nach „Hey, was gibts bei Dir? Bist Du krank?“ oder so ähnliche Floskeln. Ich frage so etwas schon die Vier- oder Fünfjährigen, problemlos klappt das dann ab Schulalter aufwärts. Bei diesen ersten Antworten erfahre ich meist mehr, als wenn die Eltern beginnen, „ihre“ Beschwerden und Sorgen zu berichten. Da sagt ein Fünfjähriger schon mal „Mir gehts gut!“, obwohl er mit hohem Fieber, Durchfall, Null Appetit und „sooo schlapp“ angekündigt war. Oder die Jugendliche, deren Eltern einen Termin machen, weil die Tochter immer wieder so Kopfschmerzen hat, erklärt mir, dass sie gar nicht weiß, was sie bei mir solle. Zugegeben, bei Säuglingen fällt die Anamnese etwas schwerer. Wenn das „Sie, der schreit die ganze Nacht und ist so unleidig“-Baby mich anlacht und gurrt und strampelt, kann aber das Leiden schon mal nicht so lebensbedrohend sein.

Also lasse ich erst einmal erzählen. Das Kind, dann die Eltern. Dann wird nachgefragt, präzisiert, schließlich ist es meine Aufgabe, Differentialdiagnosen auszuschließen und das Panische vom Unproblematischen zu trennen.

Zuhören

Die grösste Herausforderung bleibt, das Zuhören zuzulassen. Den Kindern. Den Eltern. Zuhören, um ausreden zu lassen, um die wichtigsten Beschwerden loszuwerden. Inzwischen unterbreche ich am Anfang nur, wenn Eltern oder Kinder seeehr weit ausholen. Kinder können steuern das noch nicht ausreichend. „Um was gehts denn bei Dir?“ – „Ich habe seit schon immer Bauchweh.“ – „Weißt Du noch, wann das anfing?“ – „Schon ewig.“ Usw. usf. Am Ende kommt heraus, die Bauchweh gibt es nur einmal alle zwei Wochen, und nicht seit immer, sondern erst seit den Herbstferien.

Eltern dürfen auch Zuhören. Das fällt manchen noch schwerer als uns ÄrztInnen. Die denken, wir hätten ja keine Zeit, und ihre Kinder könnten nicht rationell antworten. Da erlaube ich mir schon mal, den Müttern und Vätern über den Mund zu fahren, ein kurzes Handzeichen zu geben, dass sie erstmal ihre Kinder reden lassen sollen. Die sind dann überrascht, über meine Reaktion, weil sie sich ertappt fühlen.

Ganzheitlichkeit

Überall wird jetzt nach der „Sprechenden Medizin“ gerufen. ÄrztInnen nehmen sich zu wenig Zeit für ihre Patienten und treiben sie daher in die Arme von Heilpraktikanten oder in die Psychotherapie, denn die Sprache werde bei den Konsultationen vernachlässigt. Die MedizinerInnen kümmerten sich zuviel um Symptome und schnelle medikamentöse Lösungen, statt sich den Ursachen zu widmen, zu fragen, reden zu lassen, das „Dahinter“ zu erfragen, das – Achtung, noch ein wichtiger Modebegriff – das Ganzheitliche zu sehen. Noch besser: Holistisch zu denken. Das klingt doch gleich richtig omnipotent, gottgleich.

Aber das funktioniert nicht immer in der Praxis. Mindestens dreiviertel der Eltern wollen eine schnelle Lösung, Ohrenweh, Halsweh, Fieber – das muss jetzt mal schnell geklärt werden, auch möglichst schnell therapiert, denn Bobele soll ja wieder in den Kindergarten oder Schule, die Eltern wieder arbeiten. Wenn ich dann die Sprechende Medizin bemühe und erkläre, warum und weshalb dieser oder jene Hustensaft, dieses Glaubuli oder jene Tropfen für die Ohren keine Verbesserung bringen: „Und aufschreiben tun Sie jetzt gaaar nichts?“

Schließlich lässt sich nicht jede Vorstellung mit Rezepten therapieren. Wir haben immer häufiger bei Kindern chronische Schmerzen oder Unwohlsein, Schulängste und „Infektanfälligkeit“, das sind dann die halbstündigen Gespräche am Nachmittag oder nach der Sprechstunde. Bauchweh, Kopfweh, Müdigkeit – psychosomatische Beschwerden brauchen Zeit, die organische Abklärung steht für viele im Vordergrund (der Entscheidungsbaum der Differentialdiagnosen wird immer im Hinterkopf abgearbeitet), hier geht es aber vor allem ums Sprechenlassen und alles Wahrzunehmen.

Die Medizin der Zukunft, die die PatientInnen und ÄrztInnen zufriedener stimmt, ist die der offenen Ohren und des Vertrauens auf beiden Seiten: Dass PatientInnen sich an ihre ÄrztInnen wenden und diese sich Zeit nehmen, ihnen zuzuhören. Ein empathisches Miteinander kann dann auch die Sehnsucht vieler ÄrztInnen befriedigen: Dass auch ihre PatientInnen wiederum ihnen zuhören und ihrem Wissen und Ratschlag vertrauen.

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