Ein Stück, geschaffen wie für ein Kammertheater mit kleinem Ensemble, wird derzeit im Salon 5 in Wien gezeigt. „Camera clara oder Wie man leben muss“ ist eine Koproduktion mit „Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und Drama Shop und entstammt der Feder von Anna Poloni.
Karl (Jens Ole Schmieder) und Franz (Luc Feit) im Stück Camera Clara - Foto: (c) Bohumil Kosthohryz
Viel hat man von der Autorin bisher noch nicht gehört, umso erstaunlicher ist der in sich geschlossene, kunstvolle und reife Text. Die Handlung ist rasch erzählt: Ein Geschwisterpaar, Marek (Martin Schwanda) und Karen (Petra Gstrein) verbringen aufgrund der Weigerung des Bruders die Wohnung zu verlassen, ihr Leben abgeschottet von der Umwelt. Wäre da nicht Karens Beruf sowie das große Fenster, von welchem aus ihr Bruder beginnt, das Treiben im gegenüberliegenden Gastgarten zu fotografieren. Dort agiert seine Schwester als Lockvogel und versucht so, durch die Kamera ihres Bruders von der Ferne immer beobachtet, sich ein kleines Stück Freiheit zu erobern. Dieser ist jedoch nicht gänzlich unbeteiligter Zuseher, der Momentaufnahmen macht, sondern beginnt, anfangs unmerklich, dann immer stärker Regie im geschwisterlichen Zusammenleben zu führen. Dabei berät er Karen auch bei der „Kostümwahl“ und bittet sie, um besser auf den Fotos erkannt zu werden, immer etwas „Türkises“ zu tragen. Karen, im Gegensatz zu Marek extrovertiert, leidet unter der Enge der häuslichen Gegebenheiten und kommt schließlich auf die Idee, die Fotos ihres Bruders Galeristen zu zeigen. Diese, Franz (Jens Ole Schmieder) und Karl (Luc Feit) scheuen sich nicht, mit ihr ein Verhältnis anzufangen. Beide verheiratet, versuchen so, an die Bilder von Marek heranzukommen, der sich dem „Kunstbetrieb“ völlig verweigert. Auf dramatische Art und Weise beginnt sich das Geschehen plötzlich gegen die vermeintliche Familienidylle des Geschwisterpaares zu wenden, und am Schluss des Abends bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Psychologische Abgründe eröffnen sich, als Karen plötzlich dahinter kommt, dass ihr Bruder ein Doppelleben geführt hat und der Liebhaber mehrerer Frauen war. Das bis dahin traute inzestuöse Geschehen ist nicht mehr reparabel und der Schluss – zumindest in der Bühnenfassung unter der Regie von Anna Maria Krassnigg – tiefschwarz.
Die Autorin vermeidet in ihrem Text allzu rasche Festlegungen, welche die einzelnen Charaktere als gut oder böse kennzeichnen würden. Vielmehr agiert jeder von ihnen wie aus einem inneren Zwang heraus, getrieben von Motivationen, die multiple Ursachen zu haben scheinen, aber nur beiläufig blitzlichtartig zu erkennen sind. Durch die Konstruktionen ihres eigenen Seins verstricken sie sich in Handlungen, die sie selbst im Grunde ihres Herzens nicht gut heißen. Dennoch funktioniert der Mechanismus der Verdrängung bei den meisten von ihnen bestens. Wie sehr der Zugang zur eigenen Urteilsfähigkeit, zur Radikalität mit sich und den anderen bei den Protagonisten außerhalb der Geschwistergemeinschaft fehlt, zeigt eine Aussage von Franz, der Karen und ihren Bruder als jemand beschreibt, bei dem etwas nicht stimmt. „Es ist skandalös – sie lügen einfach nicht!“ stellt er ungläubig fest und charakterisiert dadurch auch jene unsanktionierte, ja auf weite Strecken erwünschte soziale Handlung, welche die Menschen förmlich dazu auffordert, Unwahrheiten ganz im Sinne eines breiten gesellschaftlichen Konsenses zu verbreiten.
Feststellungen wie diese sind das Salz in der Suppe dieses Abends. Pointiert und messerscharf schneiden sie in die wabernde und schlatzige Kommunikationsübereinkunft, die darauf ausgerichtet ist zu verstecken, was keiner sehen will und zu polieren, was im Grunde niemals Wert ist, poliert zu werden. Als Karl dem Künstler wider Willen den zu erzielenden Preis für seine Fotos nennt, fügt er im selben Atemzug hinzu: „Das hat nichts mit Ihnen zu tun – der Markt ist irrational“. Der Markt als Legitimation für Ausbeutung, dem nicht zu entkommen ist.
Die Inszenierung selbst verortet das Geschehen eher in die Zeit der Filme der „nouvelle vague“, ohne jedoch das Jahrzehnt konkret zu bestimmen. Existentialistisches Schwarz trugen Intellektuelle und Künstler damals wie heute. Der Vergleich zur Filmströmung, die von Frankreich aus ging, ist dennoch statthaft. Zwischenmenschliche Beziehungen mit bizarren Strömungswechseln sind, das wird an diesem Abend deutlich, ein Dauerbrenner.
Die Besetzung der Galeristen mit Luc Feit und Jens Ole Schmieder ist ein Volltreffer. Sie liegen in ihrer Interpretation absolut deckungsgleich auf den ihnen zugeschriebenen Figuren. Martin Schwanda als Marek oszilliert zwischen seiner Introvertiertheit und verdeckten Machtausübung. Die zarte Petra Gstrein als Karen ist ein bewusstes Gegenstück zu Kirstin Schwab, die – Lebenslust und Unbekümmertheit pur – als Einzige ihren Emotionen ihren Lauf lässt.
Man darf auf weitere Arbeiten von Anna Poloni gespannt sein!