Wie könnte eine europäische Identität aussehen?

Im letzten Beitrag haben wir die Frage nach der Notwendigkeit und Möglichkeit einer europäischen Identität diskutiert. Wie könnte so eine Identität aber aussehen? Europa fehlt ja schon ein ordentlicher Gründungsmythos. Statt Valley Forge und Independence Day - die Montanunion. Keine Gründungsväter, keine Federalist Papers. Selbst die Flagge gilt erst seit 1986. Dazu kommt die Frage, was man überhaupt ins Zentrum Europas stellen will. Demokratie? Frieden? Rechtsstaat? Freiheit? Den gemeinsamen Markt? Die Agrarpolitik? Die Einfuhrbestimmung für Karamellbonbons?
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Befassen wir uns zuerst mit den historischen Gegebenheiten. Der Zweite Weltkrieg lässt sich aus der Entstehungsgeschichte der EU nicht wegdenken, die als Montanunion und später EWG ursprünglich der Kontrolle der deutschen Rüstungsindustrie diente. Aus diesem geschichtlichen Ansatz lässt sich der Friedensaspekt ableiten: die EU dient danach vorrangig dazu, kriegerische Konflikte in Europa zu verhindern. Tatsächlich gab es zwischen Mitgliedern der EU seit ihrer Gründung keinerlei bewaffneten Konflikte (sehr wohl allerdings in Europa). Da die Schrecken des europäischen Krieges aber für die aktuellen Generationen bereits sehr weit weg sind (bereits Schröder war, im Gegensatz noch zu Helmut Kohl, nicht mehr von den Geschehnissen geprägt), ist dies ein reichlich theoretischer und kaum hinreichender Aspekt.
Die EU hat sich allerdings auch von früher sechs auf heute 28 Mitgliedsstaaten erweitert. Um aufgenommen werden zu können, müssen Staaten für die EU gewisse Mindestbedingungen erfüllen (der so genannte acquis communitaire), die wir sowohl unter dem Freiheitsaspekt als auch unter dem Rechtsstaatsaspekt fassen können. Ein Land, das in die EU aufgenommen werden will, muss rechtsstaatliche Eigenschaften aufweisen und seinen Bürgern demokratische Freiheitsrechte einräumen. Gleichzeitig sieht sich die als Garant dieser Freiheitsrechte. Diese Vorstellung war treibend hinter den Süd- und Osterweiterungen, als die ehemaligen Militärdiktaturen Spaniens, Griechenlands und Portugals und die früheren Sowjetdiktaturen in Osteuropa aufgenommen wurden. Die Hoffnung war, dass die EU sich als stabilisierender Faktor in deren freiheitlicher Entwicklung erweisen würde. Trotz einer insgesamt positiven Leistungsbilanz fallen hier jüngste Fehlleistungen wie in Ungarn deutlich ins Auge.
Der Freiheitsaspekt lässt sich seit Schengen auch als Mobilitätsaspekt lesen. Die EU ist seit 1995 ein Raum ohne echte Grenzen. Die Einhegung europäischer Staaten mit den Grenzpunkten ist mittlerweile Geschichte. Grundsätzlich können EU-Bürger innerhalb der EU Freizügigkeit genießen. In diesem Zusammenhang ist auch die EU-Staatsbürgerschaft wichtig, die dem reisenden Bürger in jedem EU-Land dieselben Rechte gewährt und damit Sicherheit gibt.
Zuletzt wäre da der Wirtschaftsaspekt: In der Realität ist er das Kernstück der EU; als Identitätsmerkmal ist er allerdings mit Vorsicht zu genießen. Gerade der Wirtschaftsaspekt dient den nationalen Regierungen wie kein anderer als Sündenbock für unpopuläre Politiken und wird von den Bürgern als Bedrohung empfunden. Gleichzeitig kann man mit dem gemeinsamen Markt kaum Emotionen und Begeisterung wecken, weswegen dieses Element trotz seiner in der Realität hohen Bedeutung vermutlich eher eine zweite Geige spielen dürfte.
Eine europäische Zivilreligion würde sich daher vermutlich auf die EU als einer Garantin von Frieden, Freiheit und Recht stützen müsen. Das Problem (für die EU) ist es, dass dies ja bereits von den Nationalstaaten garantiert wird (andernfalls hätten sie ja nicht Mitglied werden können), weswegen sich die EU gegen die Nationalstaaten profilieren müsste. Wir sehen Ansätze bereits in einigen EUGH-Entscheidungen. Gleichzeitig wäre eine Umgestaltung des politischen Systems sinnvoll, die gar nicht schwerwiegend sein müsste. Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wahlrechts mit echten europäischen Parteien und Spitzenkandidaten dürfte die Perzeption bereits deutlich beeinflussen. Wenn ich erst einmal ein Kreuz für den spanischen Spitzenkandidaten meiner bevorzugten konservativen Partei mache, ist bereits viel getan. Der Versuch, die Wahl 2014 als Richtungswahl zwischen dem Deutschen Martin Schulz und dem Luxemburger Jean-Claude Juncker zu interpretieren, geht bereits in diese Richtung.
Gleichzeitig bräuchte es wohl eine penetrantere Zurschaustellung europäischer Symbolik, also vor allem der Flagge. Diese weht zwar schon mehr oder minder gleichberechtigt vor vielen Behörden, könnte aber noch weit größere Verbreitung finden. Auch ein europäischer Feiertag, der entsprechend zelebriert wird (ähnlich dem früheren französischen Nationalfeiertag fête de la fédération) dürfte hilfreich sein.
Im besten Fall verstärkten sich diese Maßnahmen gegenseitig und schaffen einen progressiven Handlungsdruck innerhalb der EU, der zu einer Öffnung in demokratischer Hinsicht und einem Wettrennen mit den Nationalstaaten um die freiheitlichere Ausrichtung führt. Im schlechtesten Falle verschaffen sie ohnehin fragwürdigen Politiken - der Missachtung nationalstaatlicher Souveräntität im Gewand der Rettungspolitik oder der menschenrechtsverachtenden Abwehr von Flüchtlingen - zusätzliche Legitimität.

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