Was ich von einem Zen-Lehrer über Ängste lernte.
Die zehn häufigsten Ängste von Menschen sind nach diversen Studien:
- Flugangst
- Redeangst
- Höhenangst
- Angst vor Dunkelheit
- Angst vor Nähe
- Angst vor dem Tod
- Versagensangst
- Angst vor Ablehnung
- Angst vor Spinnen
- Angst vor Bindung
Vermutlich haben Sie mindestens eine Angst in der Aufzählung entdeckt, die Sie auch bisweilen beschäftigt oder bedrängt. Das Tückische an den obigen Ängsten ist ja, dass man verstandesmäßig weiß, dass das vielleicht unangenehm sein kann. Aber nicht wirklich schlimm oder gar lebensbedrohend.
Doch wir handeln nicht nach dem Verstand, sondern werden von diffusen Gefühlen gepackt und sind rationalen Argumenten nicht aufgeschlossen: „Ja, ich weiß, dass es Blödsinn ist, davor Angst zu haben – aber ich hab sie trotzdem.“
Doch was kann man dann gegen Ängste tun? Und vor allem, wie kriegen wir eigentlich Angst? Oder noch besser gefragt: Wie machen wir uns Angst?
„Erkenne Dich selbst“ lautete die Aufforderung über dem griechischen Orakel in Delphi.
In den meisten Religionen und vielen philosophischen Schulen ist das der Inhalt. Sich klar zu werden über seine Motivationen, seine Absichten und Handlungen. Doch geht das überhaupt? Können wir uns selbst erkennen? Ist das nicht unmöglich, so wie auch das Auge sich nicht selbst sehen kann.
Wer immer sich die Fragen stellte:
- Wer bin ich?
- Warum mache ich die Dinge, die ich tue?
- Wie kann ich diese Angst loslassen?
wird erleben, dass dazu im Geist eine Menge Erklärungen, Theorien, Informationsschnipsel etc. auftauchen. Doch welche der „Antworten“ ist nun richtig?
Das meiste, was Sie über sich wissen, glauben Sie nur.
- Dass die Amerikaner damals auf dem Mond waren, glauben Sie nur. Und wenn Sie ein Verschwörungstheoretiker sind, glauben Sie es nicht.
- Dass Zucker, Fleisch, Alkohol, Zigaretten etc. schlecht für Ihr Gesundheit sind, glauben Sie nur. Wenn Sie diese Dinge gern zu sich nehmen, glauben Sie es nicht.
- Ob Sie erfolgreich, liebenswert oder im Gegensatz ein Verlierer oder die Pest sind, glauben Sie nur – Sie wissen es nicht.
Aber weil wir nicht dauernd sagen können „Weiß ich nicht!“, müssen wir also dauernd etwas glauben.
Aber was sollen wir glauben?
Zahlreiche psychologische Studien zeigen, wie entscheidend es ist, was wir über uns selbst glauben.
- Menschen, die sich für klug halten, schneiden in Prüfungen besser ab. Auch wenn sie sich überschätzen und das gar nicht stimmt.
- Menschen, die glauben, dass sie gerade ein starkes Schmerzmittel bekommen, haben weniger Schmerzen – auch wenn es ein Placebo ist.
- Menschen, die glauben, weniger Schlaf zu brauchen, bringen tatsächlich bessere Leistungen mit weniger Schlaf.
Was Sie über sich glauben, hat enormen Einfluss auf das, was Sie erleben.
Und was hat das jetzt mit dem Zen-Lehrer zu tun?
The theory of the two minds.
So nannte der Zen-Meister, den ich 1979 in einem buddhistischen Kloster in Südfrankreich, kennenlernte, diesen Ansatz. In einem Workshop mit etwa 45 Teilnehmern sagte er:
- „Schließen sie Ihre Augen.
Und denken Sie für dreißig Sekunden an – nichts.
Bereit?
Ab jetzt.(Sie können das hier beim Lesen gleich mitmachen.) - „Das war nicht einfach, stimmt’s?
Alle möglichen Gedanken, Bilder und Gefühle kamen hoch. Das ist normal. Versuchen Sie, sie zu beobachten – und lassen Sie sie dann los. Versuchen Sie das für eine Minute.(Sie können das hier beim Lesen auch gleich wieder mitmachen.) - „Was waren Ihre Gedanken?
Vielleicht haben Sie an das bevorstehende Mittagessen gedacht. Oder dass es ziemlich kalt und zugig hier in der Halle ist. Oder dass Ihr Sitznachbar ziemlich laut atmet.
Vermutlich konnten Sie Ihren Gedanken eine Weile folgen, aber dann driftete Ihr Denken irgendwohin ab.
Sie haben versucht, Ihren Geist für 30 Sekunden abzustellen – aber es ging nicht.
Das ist der „Affengeist“. Ein endloses Strömen von Geschwätz, das den ganzen Tag in Ihnen abläuft.“
Viele östlichen Meditationsschulen lehren, diese Quatschbox des Geistes zu beruhigen und dahin zu kommen, dass die Gedanken mit der Zeit weniger werden. Bei mir hat das nie so richtig funktioniert und wenn ich herumhörte bei anderen, berichteten die, die ehrlich waren, dasselbe.
Und jetzt kommt wieder der Zen-Lehrer ins Spiel. Denn er sagte damals:
- „Wenn Sie Ihre Augen schließen und versuchen, Ihre Gedanken loszulassen, dann denkt Ihr Geist ja trotzdem.
Offensichtlich denkt Ihr Geist (mind).(Und jetzt kommt’s!)
Aber wenn Ihr Geist denkt – wer ist dann derjenige, der Ihren Geist beobachtet, dass er denkt?“
Rummms!
Es fing wirklich ein Ruck durch mich durch. So sehr traf mich diese Erkenntnis. Ich hatte so etwas vor Jahren schon mal bei Krishnamurti gelesen aber nicht so richtig verstanden. Aber jetzt war die Erkenntnis direkt vor mir!
Wenn mein Geist sich damit beschäftigt, was ich heute zu Mittag essen werde, wer oder was ist es dann, der den Geist beobachtet, wie er sich über das Mittagessen Gedanken macht?
Es ist mein Geist (mind), der meinen Geist beobachtet.
Im Zen unterscheidet man deshalb den „denkenden Geist“ und den „beobachtenden Geist“. Das ist die Theorie „of the two minds“. (Ins Deutsche übersetzt klingt das komisch.)
Auch im Buddhismus ist das ein verbreitetes Konzept und neuere Therapieschulen wie die Akzeptanz- und Commitmenttherapie benutzen dieses Konzept, weil es eine Menge unserer täglichen Problem beheben kann.
Den denkenden Verstand können Sie nicht kontrollieren.
Das ist die ganze Crux. Ich will Ihnen das beweisen.
Hierzu eine kleine Aufgabe.
Denken Sie jetzt nicht an ein blaues Krokodil mit einem gelben Regenschirm im Maul.
Denken Sie die nächsten zwei Absätze nicht an dieses blaue Krokodil.
Was gerade in Ihnen passierte: Ihr beobachtender Verstand nahm Ihren denkenden Verstand wahr, wie er sich mit dem blauen Krokodil beschäftigte, obwohl er das nicht tun sollte. Und das passiert den ganzen Tag, denn der denkende Verstand steht kaum jemals still. Hat zu allem und jedem einen Einfall, eine Erinnerung, eine Meinung …
Und dasselbe passierte mit unseren Gefühlen. Die Gefühle, auch die negativen, sind eigentlich nicht schlimm. Aber wir leiden daran, dass wir anscheinend nichts dagegen tun können, in diese negativen Gefühle hineingezogen zu werden.
Und hier hilft uns die „theory of the two minds“.
Den meisten psychologischen und emotionalen Stress erleben wir,
weil unser denkender Verstand und der beobachtende Verstand
verschmelzen und wir nicht den Unterschied mehr feststellen können.
Das hat weitreichende Konsequenzen.
Immer wieder werde ich in meinen Persönlichkeitsseminare oder Coachings gefragt:
- „Wie schaffe ich es, nicht mehr eifersüchtig zu sein?“
- „Wie kann ich meine Angst, verlassen werden, überwinden?“
- „Warum bin ich vor Vorträgen so wahnsinnig nervös?“
- „Wie kann ich aufhören, mich immer so abzuwerten?“
Meine ernüchternde Antwort: „Das können Sie nicht. Sie können Ihren denkenden verstand nicht kontrollieren. Ihre Gefühle tauchen einfach auf und sie tun das immer wieder.“
Der Trick ist: sich nicht mit den Emotionen zu identifizieren, wenn Sie auftauchen.
Der Zen-Lehrer sagte: „Probieren Sie aus, statt ‚Ich bin ärgerlich‘ zu sagen: ‚Ich fühle Ärger‘.
Statt zu sagen „Ich bin wahsinnig nervös“, sagen Sie zu sich: ‚Ich fühle eine starke Nervosität in mir'“
Statt „Ich bin eifersüchtig“ sagen Sie „Ich fühle Eifersucht.“
Sprachlich ist der Unterschied in der Formulierung gering. Aber in Ihrem Gefühlsleben kann sich das sehr positiv auswirken. Denn in diesem Moment beobachten Sie Ihren Ärger und verschmelzen nicht damit.
Gefühle können Sie nicht wählen – nur Ihr Verhalten.
Das ist die wichtigste Konsequenz aus der „theory of two minds“: Sie können nicht wählen, ob Sie ein Gefühl haben wollen oder nicht. Das Gefühl kommt einfach. Was Sie wählen können, ist Ihr Verhalten dazu.
„Haben Sie keine Angst vor Krankheit oder vorm Sterben?“, fragte mich vor einiger Zeit jemand.
Aber natürlich habe ich davor Angst, genauso wie jeder andere Mensch auch. Aber ich versuche, mich nicht damit zu identifizieren. Ich akzeptiere die Angst – und gehe trotzdem voran.
Wenn ich mir über etwas Sorgen mache, akzeptiere ich das und handle trotzdem. Das geht mal besser, mal schlechter.
Dieses Vorgehen ist auch deshalb vernünftig, weil man gegen negative Gefühle nicht gewinnen kann. Sie sind immer stärker. Auch wenn man sich ablenkt oder sie zu verdrängen sucht – spätestens am anderen Morgen beim Aufwachen sind sie wieder da. Und die zu lange Beschäftigung damit oder der Versuch, das Gefühl loszulassen, macht es nur noch stärker.
Je mehr Sie sich auf ein Gefühl fokussieren, umso stärker wird es.
Der Trick besteht darin, das negative Gefühl anzunehmen und dann loszulassen. Das ist eine Fähigkeit, die man trainieren kann.
Hier zwei Anregungen, wie Sie die beiden „minds“ unterscheiden können und Ihr Verhalten kontrollieren trotz Ihrer Gedanken und Gefühle:
- Wenn Sie ein starkes Gefühl oder einen Gedanken beobachten, desidentifizieren Sie sich davon:
Also: „Der Kunde ist nicht unverschämt. Aber ich habe den Gedanken, dass der Kunde unverschämt ist.“
„Ich habe nicht versagt, wenn ich einen Fehler mache. Aber ich fühle Versagensangst, wenn ich einen Fehler mache.“Die Desidentifikation impliziert, dass Gefühle nicht Tatsachen sind, sondern vorübergehende Zustände. Sie hält Sie auch dazu an, die Verantwortung für Ihr Gefühl und Ihre Handlungen zu übernehmen. Gefühle sind niemandes Schuld, sie sind einfach da. - Bedanken Sie ich bei ihrem denkenden Verstand für die negativen Gefühle und Gedanken.
Ich weiß, das klingt ziemlich schräg, wirkt aber. Es ist auch eine Technik aus der Akzeptanz- und Commitmenttherapie.
Denn das Danken zwingt Sie dazu, die negativen Gedanken zu akzeptieren statt gegen sie zu anzukämpfen.
Also zum Beispiel so:“
„Danke, denkender Verstand, für die Aufregung vor meinem nächsten Vortrag. Ich werde mich noch besser vorbereiten.“
„Danke, denkender Verstand, für die Angst vor Krankheiten. Ich schätze sehr, dass Du Dich so um meine Gesundheit sorgst.“Ja, ich fand das anfangs auch ziemlich seltsam, mich für negative Gedanken und Gefühle zu bedanken.
Das lässt sich besser verstehen, wenn man annimmt, dass die negativen Gedanken von einem inneren Anteil kommen, der eine gute Absicht hat, wie ich in diesem Artikel genauer beschrieben habe.Doch wenn Sie es ausprobieren, werden Sie feststellen, dass Ihre Dankbarkeit die Macht der negativen Gefühle reduziert und Sie dazu motiviert, trotzdem zu handeln.
Ängste zu überwinden ist nicht einfach.
Weil die meisten Ängste existenzielle Ängste auslösen. Auch wenn wir wissen, dass Fliegen statistisch gesehen, die sicherste Art der Fortbewegung ist, hilft das dem Menschen mit Flugangst nichts. Auch der Spinnenphobiker weiß, dass er mit einer Zeitung den schrecklichen Feind töten könnte – aber die Angst ist oft stärker.
Auch die Menschen hier in China wissen, dass die Glasbrücke die höchsten Sicherheitsstandards erfüllt, aber schauen Sie, was das vielen Menschen nützt:
Auch hier sind es vor allem die Gedanken, die die Angst erzeugen. Die reale körperliche Erfahrung zeigt ja, dass das extradicke Sicherheitsglas hält, aber man weiß ja nie …
Am besten, Sie probieren es einfach mal aus.
Wenn Sie das nächste Mal vor etwas Angst haben, probieren Sie die im Artikel vorgestellten Methoden:
- Beobachten Sie die angstvollen Gedanken und machen Sie sich klar, dass es „nur“ Gedanken sind.
- Sagen Sie zu sich: „Ein Teil von mir hat Angst – und ein anderer Teil von mir weiß …“
- Sagen Sie zu sich: „Ich fühle Angst.“
- Bedanken Sie sich bei Ihrer Angst und überlegen Sie, was sie Ihnen zeigen will
Wie gehen Sie mit Ihren Ängsten um?
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