Eigentlich könnte ich einen Roman über mehrere 100 Seiten über dieses Thema schreiben, aber ich versuche es, soweit es mir gelingt, in diesem Beitrag zusammenzufassen.
Ich hatte Anorexie und Bulimie.
Der wohl gebräuchlichere Name für die Anorexie ist Magersucht, Bulimie kennt man auch unter Ess- und Brechsucht.
Wie ich heute weiß, hatte ich einen ganz typischen Verlauf dieser beiden Störungen. Zunächst habe ich angefangen Diät zu halten, woraus recht schnell eine gegen Null – Diät wurde. Nach dem ich mich monatelang kasteit habe, hatte ich Hunger, also aß ich. Sehr viel, nein massenhaft. Danach musste das Essen wieder raus, ich hatte mir monatelang eingeredet Essen ist schlecht und macht dick. Zunächst machte ich Sport, was aber nicht half, da die Massen die ich aß immer größere Ausmaße annahmen.
Schnell kam ich auf die Idee, mir den Finger in den Hals zu stecken und siehe da, das Essen kam wieder heraus und zugenommen habe ich auch nicht, am Anfang jedenfalls nicht.
Ich will auch gar nicht weiter in die Details dieser ganzen, für mich sehr einschneidenden und schlimmen Zeit gehen. Was ich jedoch möchte ist, hier an Ort und Stelle festzuhalten, wie ich es bis hier her geschafft habe und heute ohne Essstörungen und Diätzwänge leben kann.
Es war ein sehr sehr langer weg. Wenn man bedenkt, dass ich erst 25 bin und dafür mehr als 5 Jahre gebraucht habe, hat diese Zeit doch einen recht langen Lebensabschnitt eingenommen.
Der allererste Schritt
Ich ging eine psychosomatische Klinik, 3 Monate lang. Dort wurde ich durch-therapiert. Gruppen-, Einzel-, Mal-, Tanz- und was es nicht sonst noch für Therapien gibt.
Außerdem habe ich dort zugenommen, bis ich wieder normalgewichtig war.
Als ich dann wieder nach hause kam, begann alles von vorne angefangen. Damals dachte ich, dass wäre das Zeichen, dass die Klinik einfach nicht funktioniert hat, heute sehe ich das etwas anders.
Genau wie Beziehungen nicht funktionieren, funktionieren auch Therapien nicht. Ich habe mich dort zu keinem Zeitpunkt zu 100% auf die Therapie eingelassen. Hätte ich es getan, wäre ich als gesunde und glückliche, junge Frau aus diesen drei Monaten zurückgekehrt.
Dort wurde jedoch der Grundstein zu Allem gelegt, was danach kam. Ich habe dort erst wieder gelernt, ein, wenigstens einigermaßen normales Verhältnis zum Essen zu aufzubauen. Was bedeutet, dass ich dann wieder wusste, dass, wenn ich zwei belegte Brötchen esse und mich danach nicht übergebe am nächsten Tag nicht zwei Kilo mehr wiegen würde.
In der Zwischenzeit
Die Zeit zwischen der Klinik und heute war ein ewiges auf und ab. Ich nahm zu, fühlte mich schlecht, nahm wieder ab, nahm zu, fühlte mich schlecht, nahm wieder ab.
Ab und zu übergab ich mich auch nach Mahlzeiten, wenn ich etwas sehr böses, also etwas mit sehr vielen Kalorien, gegessen habe, aber nicht öfter als einmal in der Woche, was für mich schon ein wahnsinniger Fortschritt war.
Sobald ich in stressige Situationen kam neigte ich jedoch sehr dazu, darauf mit meinem Essverhalten zu reagieren und sparte Kalorien ein, machte zusätzlich Sport und so weiter und sofort.
Ich hatte immer noch eine ellenlange Liste mit verbotenen Nahrungsmittel. Dazu zählten insbesondere Pommes, alles was fritiert ist, Hamburger, Pizza, Schokolade. Nie hätte ich auch nur im Traum daran gedacht, dass ich jemals wieder so etwas essen könnte, ohne mich anschließend zu übergeben und da ich das vermeiden wollte, vermied ich einfach diese Nahrungsmittel.
Letztes Jahr bis heute
Im letzten Jahr normalisierte sich das alles jedoch sehr.
Es stellte sich kein “Klick” oder “Aha-Moment”, es war seine sehr sehr langsame Entwicklung, mit wahnsinnig vielen Rückschlägen. Ich kann mich noch daran erinnern, wann ich mir das letzte mal den Finger in den Hals steckte. Das Gefühl dazu, habe ich verloren. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, welche Gedanken, welche Kräfte mich dazu getrieben haben, mir das anzutun.
Das ist jetzt über 2 Jahre her und ich sehe die Aufgabe dieser, nennen wir es mal Gewohnheit, als aller ersten Schritt Richtung Normalität. Ich dachte, wenn ich es nur ganz selten mache, ist es ja eigentlich als würde ich es gar nicht machen, aber das stimmt nicht. Man muss es aufhören, genau wie ein starker Raucher nur in ganz seltenen Fällen zum Gelegenheitsraucher werden kann.
Das war also der erste Schritt, es einfach zu lassen. Dem Körper das Essen geben, es ihm nicht wieder zu entziehen und dadurch auch zu merken, dass man nicht ins Unendliche zunimmt, wenn man mal “sündigt”.
Die zwei Jahre bis heute waren und sind ein ständiges auf und ab. Ich bin normalgewichtig, achte aber sehr auf meine Figur. Ich halte keine Diäten mehr. Ich vermute, dass mich die jahrelange Fehl- und Mangelernährung krank gemacht habe, ich deshalb eine Fructose- und Histaminintoleranz habe, alleine schon deshalb muss ich sehr auf meine Ernährung achten, eine zusätzliche Diät wäre ohnehin unmöglich.
Soziale Kontrolle
Ich bin fest davon überzeugt, ja eigentlich zu 100%, dass eine Essstörung nur weggehen kann, solange man der sozialen Kontrolle einer Person unterliegt, der man vertraut . Obwohl Kontrolle hier vielleicht gar nicht das richtige Wort ist.
Seit ich mit meinem Freund zusammen lebe, ist das Essen wieder normaler für mich geworden. Ich bekome jeden Tag mit, wie er selbstverständlich das isst, worauf er Hunger hat und das färbt ab. Ich verhalte mich automatisch auch “richtig”, der Umgang mit dem Essen fällt mir dadurch leichter, eigentlich gibt es gar keinen speziellen Umgang mehr, sondern ich esse einfach, mal mehr mal weniger, ganz normal eben.
Ohne ihn wäre ich längst nicht so weit. Mein Freund ist seit einigen Wochen weg, ich bin alleine. In meinem Kühlschrank befinden sich vielleicht 1/3 der Nahrungsmittel, die sonst darin sind, ich habe auch wieder etwas abgenommen, daran merke ich, dass ich nach wie vor diese äußere Instanz, diesen “Richtungsweiser” brauche.
Sobald er wiederkommt wird es wieder ganz normal. Versteht mich nicht falsch, mein Freund ist NICHT dafür verantwortlich, dass ich normal esse, er hilft mir nicht aktiv, er redet mir überhaupt nicht rein in mein Essverhalten. Er ist einfach nur da und isst. Und das hilft mir und nichts anderes hat mir jemals so sehr geholfen.
Wenn man an den Punkt gekommen ist, an dem die Essstörung nicht mehr allzu viel Raum einnimmt, ist es meiner Meinung nach, unendlich wichtig, dass man von jemandem begleitet wird oder jemanden begleitet, der eine ganz normale Beziehung zum Essen hat, ansonsten bleibt man immer in so einer halb-gesund / halb-krank Schleife.
Ich kann heute sagen, ich habe diese Störungen nicht mehr, aber ohne dass ich mit einer gesunden Person zusammenlebe hätte ich das ganz sicher nicht geschafft.