Commodo live @The Egg - Manche Leute verleihen durch das Erheben der Arme ihrem Enthusiasmus Nachdruck
Auf den Spuren des Anthropologen
Bronislaw Malinowski, der als Begründer der Feldforschung Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine Pazifik-Insel reiste, um dort die Kultur der Trobriander zu untersuchen, zog ich im Oktober nach London, um die kulturellen Merkmale der Dubstep-Szene zu erforschen. Fünf Monate später, erfahrungsreich und weltstadttrunken, war es an der Zeit, sich wieder auf die Rückreise ins deutsche Hinterland zu begeben. Zur textlichen Abwechslung gibt es hier ein paar Eindrücke meiner Fahrt von London nach Köln.
Archäologen werden sich bei der Betrachtung meiner Knochen im Jahr 2912 fragen, was genau dazu geführt haben könnte, dass die Form dieser Wirbelsäule ungefähr dem Buchstaben C entspricht. Ich könnte ihnen einen Brief hinterlassen und erzählen, dass mein Backpacker-Rucksack, meine Laptop-Plastiktüte und meine Reisetasche, die aufgrund von Überfüllung nicht schließbar ist, am 29092012 die maximalste Auslastung erfuhren und mit den wahrscheinlich unsinnigsten Dingen gefüllt sind, die man bei einem Umzug nach London mitnehmen kann. Ganz vorne mit dabei sind eine marokkanische Trommel aus Ton, die ich kein einziges Mal spielen konnte, eine Glasflasche HP-Sauce (nicht für mich) und ca. 15 Bücher, von denen ich nur die Hälfte lesen konnte.
Endlich sitze ich im Eurostar, den langen untermeerischen Tunnel habe ich passiert, erstmal aufatmen, ich habe überlebt. Hoffentlich. Vielleicht bin ich aber auch in eine Art Zeitschleuse geraten und befinde mich eigentlich in einer Zeitmaschine. Einen Beweis dafür gibt es nicht, aber auch keinen Gegenbeweis.
Im Zug ist es still, die Leute sind angepasst, kauen vorsichtig auf Instant-Sandwiches herum und flüchten sich in glückselige I-Phone-Welten. Mit Blick auf die bräunliche und subtil grüne Landschaft der Normandie frage ich mich, wann ich beginnen werde, an Reizunterflutung zu leiden. Wann ich genau die hetzenden City-Worker in der Liverpool Street, das ameisenartige Zusammenpferchen in der U-Bahn während der Rush-Hour, die debattierenden Rastafaris vor dem Barber Shop um die Ecke, die symphonischen Polizeisirenen im Sekundenabstand auf den High Streets, die bellenden Stadtfüchse in dunklen Vollmondnächten, die kilometerlangen Schlangen vor dem Post Office bei Minusgraden, die bedeutungsschwangeren Verbal-Ejakulationen der Künstler in den Pop-Up Cafés von Hackney oder die crackrauchenden Hausfrauen vor meiner Haustür vermissen werde.
Park Nähe Essex Road, London
Die Stimme des franko-belgischen Zugführers schreit mir jedenfalls gerade wieder lauthals ins Ohr und weist mich zum 21. Mal daraufhin, dass es jetzt ungefähr eine Minute später ist als eine Minute zuvor. Im Guardian wird ausführlich über die eviction von Occupy St. Pauls berichtet, die Meinung der Kommentare gehen alle eindeutig in Richtung: „You cannot evict an idea.“ Das sehe ich genauso.
Und was ist mit den Leuten im Zug? Würden sie mir zustimmen oder fragen sie sich immer noch, ob sie nicht doch besser nochmal ausgiebig in der Oxford Street shoppen gegangen wären, statt in einem Ledersessel einer amerikanischen Fast-Drink-Company zu versinken und sich von Pop-Jazz einlullen zu lassen.
Es klingelt: „Ja, hallo? I´m on se dräin nia Brassels, yess. Wen interessiert das? Niemanden, wahrscheinlich noch nicht mal den Anrufer.“
Umstieg in Brüssel. Im Zug nach Köln spüre ich die verschnupften Atemzüge des französischen Jungen auf meinem rechten Arm. Letzterer versucht, sich möglichst schnell zu entfernen, wird jedoch durch den Schreibzwang daran gehindert. Atme gefälligst in die andere Richtung! Ich schaue möglichst bösartig, bin aber zu schwach, um etwas zu sagen. Er wohnt bestimmt mit seinen Eltern in einem Haus auf dem Land irgendwo in der Bretagne, in denen die Katzen in der Küche auf der Ablage herumlaufen, während die Mutter auf selbiger das Gemüse für das Abendessen schneidet. Ein Haushalt, dessen Hygiene-Bedingungen kleine dekontaminierte deutsche Schulmädchen zum Weinen bringen, wenn sie dort eine Woche verbringen sollen. So wie damals beim Schüleraustausch in Frankreich.
The Bug live - Legender britischer Bassmusic @ Ewer St Car Park, London
Neben mir sitzt ein deutsches Pärchen, deren Erscheinung (sie trägt einen fluoreszierenden, babyblauen Pullover, als sei er ihr angewachsen; er, akkurater Bürstenschnitt und maskulines Kantengesicht, trägt ein knallrotes T-Shirt) deplatzierter nicht sein könnte auf den weinroten, mit schwarzen Armlehnen versehenen Zugsitzen. Auch die Vegetation verändert sich so langsam misch-bis fichtenwaldig, immer wieder durchsetzt mit Lichtungen, in denen kleine Häuser zu erkennen sind, vor denen große, dickbäuchige Tiere lethargisch auf den Boden starren. Ist denn niemand vor der deutschen Melancholie gefeit?
Und während ich versuche, mir den Lebensstil und Tagesablauf eines westdeutschen Zuchttiers vorzustellen, steigt unverhofft meine Laune: Fahrt voraus! Auf, zurück in die deutsche Tölpelhaftigkeit! (von der ich mich auch selbst nicht freisprechen kann). Ah, er nießt wieder, diesmal feucht, wieder auf meinen Arm. Vielleicht kann es gar nicht schaden, ein paar französische Viren einzuschleusen, die fühlen sich bestimmt wohl, in Deutschland.
Text und Bilder: Phire