Wie einst Marx

Es rumort, es gärt, alle Nähte platzen. Wie dereinst Karl Marx beobachten wir die Zeichen der Zeit. Dieser meinte 1848 das Ende des Kapitalismus zu erblicken und hatte kurz zuvor noch ein Manifest, aus bald gegebenen Anlass quasi, auf den Markt geschmissen. Das publizierte Stück Marxengels blieb der Menschheit erhalten - so wie der Kapitalismus auch, der das Tohuwabohu des Jahres Achtundvierzig heil überstand. Das schon lang erwartete, analytisch ersehnte Ende des Ismus auf Kapitalbasis, entblößte sich als kurze Verschnaufpause und demonstrierte eindrücklich, welch glitschiger, windiger Bandwurm dieses Gesellschaftssystem sein kann, um nur weiterhin profitabel wirtschaften zu können.

Wie dazumal der Rauschebart, der 1848 noch wenig rauschig, noch kärglich buschig war, erblicken wir etwas, das wie das langsame, qualvolle Ende des Kapitalismus aussehen könnte. So stellen wir uns den Tod des kapitalistischen Bandwurms vor - wir wissen ja nicht, wie so ein Ende aussieht, wir haben ein solches Ende ja noch nie erlebt. Vor einigen Monaten noch Finanz- und Weltwirtschaftskrise, aktuell eine Weltmacht, die importiert und importiert und immer weniger exportiert hat - außer Soldaten und Panzer, die man überdies auf Pump finanzierte. Nun wackelt das Parkett und die darüber hetzenden Spekulanten. Seit Wochen Randale. Spaniens Marktplätze waren voller Unzufriedener, Griechenlands Straßen voller Empörter. Nordafrika erwehrt sich kapitalistisch finanzierter Despoten. Vor Jahren brannten Paris' Vorstädte, nun fackeln sie Londons Randgebiete ab. Und in Israel schreien sie derzeit nach sozialer Gerechtigkeit.

Allerorten Unzufriedenheit, Wut und nicht mehr zu domestizierende Mechanismen des kapitalistischen Fieberwahns. Wo ist das dazugehörige Manifest? Wo der Abgesang auf den Kapitalismus? Oder gleichen wir eher dem alten Marx, täuschen uns wie er einst und immer wieder, wenn wir nun festzustellen meinen, dass das Ende nahe ist? Ausgeschlossen ist es nicht, dass sie das System nochmal stützen, in einen Rollstuhl setzen, um mit ihm weiterhin durch die Gegend zu mäandern. Etwas noch kompromisslerischer gegenüber den Leistungsträgern vielleicht, etwas härter gegenüber zornige Massen eventuell - man muß das, was ruinös wird, schließlich ein wenig variieren. Als Marx meinte, den Sozialismus am Horizont zu erspähen, wurde nur der gelobte Bürgerkönig, der Jahre zuvor dem König von Gottes Gnaden folgte, durch einen zunächst staatspräsidialen, später vom Volk gekürten Kaiser ersetzt. Alles anders wie vorher - alles wie vorher, nichts anderes!

Marx hangelte sich von Hoffnung zu Hoffnung. Als 1857 die Weltwirtschaft kriselte, schlug sich Karl freudig auf die Schenkel - jetzt ist es geschehen, jetzt wird das Proletariat den Sozialismus erzwingen, eine ganz neue Welt gründen. Pustekuchen, wie wir wissen! Nach den Boom der Gründerjahre, folgte der wirtschaftliche Niedergang im Deutschen Reich - 1873 war das und Marx, mittlerweile sich von Krankheit zu Zipperlein und von Zipperlein zu Krankheit hangelnd, glaubte erneut daran, dass diese Krise die neue Gesellschaft ermögliche. Aber sie kam nicht! Der französische Börsenkrach von 1882, er erweckte letztmals Marxens Überschwang. Umsonst! Hoffnungen, nichts als Hoffnungen. Und wie diese neue Gesellschaft viele Jahre später tatsächlich ausfiel, hätte ihn vermutlich schockiert, was hier und jetzt aber nicht abgehandelt werden soll.

Die Zustände des amtierenden Kapitalismus könnten gleiche Hoffnungen nähren. Wir werden uns in den kommenden Jahren von Krise zu Krise, von Hoffnung zu Hoffnung hangeln. Dabei werden wir zu Marxisten, das heißt: werden wie er, immer wieder enttäuscht! Sei es nun Sozialismus, was man erhofft, sei es auch einfach nur ein ethischeres System, mit welchem Namen auch immer: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Börsencrashs, Athen, Madrid, Kairo, Tunis, Banlieus in Paris, Randale in London, Verärgerung in Israel blenden einen gewaltig. So einfach läßt sich des Kapitals Ismus aber nicht wegwischen. Zu sehr liegt er uns mittlerweile im Blut. Und das Alte verschwindet nicht einfach vom Bildschirm der Geschichte, weil sich ein Paar Krisen auftun, die überdies immer noch von der wirtschaftlichen Macht kontrollierbar sind. Das Alte wird sich auf Zuckerbrot und Peitsche, auf süße Reden und Polizeiknüppel stützen - je nach Lage, je nach Bedarf, je nach Klientel, die aufbegehrt. Was wir erleben ist nicht das Ende des Kapitalismus, es ist höchstens der Aufstieg zu einer neuen, höheren Stufe des Kapitalismus. Das ist nicht, wie Marx meinte, der Sozialismus - es ist eine Form, die noch weniger Rücksicht auf die Interessen der Menschen nimmt, sich dabei aber noch aggressiver Selbstzweck ist.

Wie einst Marx, wir hoffen vergebens...


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