Wie eine Halsgeige, die lähmt und Selbstvertrauen absorbiert

Von Robertodelapuente @adsinistram

oder Nicht der Hartz IV-Empfänger ist psychisch krank, psychisch krank ist der Kontext, in dem er leben muss.
Ein Drittel aller Hartz IV-Empfänger leidet unter neurotischen und affektiven Störungen, depressiven Phasen und daraus resultierenden körperlichen Leiden. Nach Einschätzungen von Fallmanagern könnte sogar die Hälfte aller Bezieher psychische Probleme haben. Das sagt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur, schätzt die Lage so ein, dass lange Arbeitslosigkeit eben psychische Folgen zeitige. Davon, dass die grobschlächtigen und teils taktlosen Methoden, die Jobcenter und ihre Mitarbeiter anwenden, wenigstens eine Mitschuld tragen könnten, wollte er nicht sprechen.

Der gemeine Hartz IV-Empfänger ist also im Durchschnitt zu etwa einem Drittel psychisch krank. Weil er nicht arbeiten darf. Weil er nicht beschäftigt ist. Der Kontext ist offenbar nicht dafür haftbar zu machen. Nicht der Druck der Behörde, die Vorsprachen vor einem anklägerischen Sachbearbeiter, die stets drohende Verknappung der finanziellen Mittel und das Gefühl der Ohnmacht und Wertlosigkeit machen nach offizieller Deutung arbeitslose Menschen zu psychisch kranken Langzeitarbeitslosen. Es ist die Langeweile eines Tages ohne Erwerbsarbeit, die jemanden zum Fall für einen Psychologen werden läßt. Arbeit macht geistig gesund, würde über den Toren der Anstalten stehen, wenn sie denn Tore hätten und nicht nur lumpige Drehkreuzeingänge.
Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass das Menschen- und Gesellschaftsbild hinter den Hartz-Gesetzen psychisch verstörend sein kann. Wer sich plötzlich als nicht mehr selbstbestimmt, sondern nur noch als reine Verfügungsmasse eines Technokraten und als Unkostenfaktor begreifen muss, gerät schnell in seelische Kalamitäten. Dieser Technokrat managt den Fall, der man selbst geworden ist. Aus dem Menschen, der man vorher war, wird ein Fall.
Plötzlich musste ich mein Privatleben mit Leuten teilen, die am anderen Ende eines Schreibtisches Fencheltee tranken. Mit Sachbearbeitern aus der Leistungsabteilung und Vermittlern, mit Personen von der Widerspruchsstelle und vom Medizinischen Dienst. Allerlei wollten sie von mir wissen, interessiert haben sie sich für mich aber nicht. Stattdessen Eingliederungsvereinbarungen, die mit Sanktionsandrohungen glänzten, bevor überhaupt der Gegenstand dieser Vereinbarung, die "Vertragsgrundlage", erläutert wurde.
Ich schrieb in jener Zeit Geschichten, die diese psychische Belastung namens Hartz IV erfassen. Besonders in meinem Buch Unzugehörig finden sich Grotesken aus jenen Jahren. Geschichten von Personen ohne Namen und ohne Background. Protagonisten, die ich absichtlich im Grauen ließ, um zu zeigen, dass sie nichts mehr sind, nichts mehr bedeuten, sozial abgelebt haben. Organische Masse, die in mancher Story als Krüppel auftritt. Nicht anerkannt von den von mir beschriebenen Bütteln. In Der gute Wille oder Erhobenen Hauptes war das so. Und mein Text Auffassungen eines Gewalttäters zeigt die andere Seite, die explosive Kraft, die in einer solchen Belastung stecken kann, die pure Wut, die Gewissheit, dass manchmal bloß noch ein, bloß noch ein einziges falsches Wort fallen muss, damit die Fassade der Zivilisation fällt.
In Auf der Tretmine tritt ein Anonymus beim Waldspaziergang auf eine Mine. Er kann nicht mehr weg, will er nicht in die Luft gehen. Also richtet er sein Leben, immer mit einem Fuß auf dem Ding, auf einem Quadratmeter Wald ein. Diese Tretmine war mein Leben in Hartz IV. Man nistet sich ein in dieser Ungerechtigkeit, geht zwangsläufig Kompromisse ein und redet sich ein, man sei noch wer. Aber man weiß, auf der Tretmine ist man nicht mehr als ein Bündel Fleisch das noch leben will. Wenn ein solches Leben nicht das Innenleben eines Menschen angreift, dann weiß ich auch nicht.
Das sind Texte aus anderen Tagen. Und es gab noch mehrere, die man noch heute bei ad sinistram finden kann. Ich erinnere mich an einen, bei dem ein Fallmanager feststellt, dass der Arbeitslose vor einigen Tagen nicht zur Maßnahme erschienen sei. Am ersten Maßnahmetag war aber das Schulungszentrum, in dem die Veranstaltung stattfinden sollte, eingestürzt und viele Menschen unter sich begraben. Seine Abwesenheit hat dem Arbeitslosen das Leben gerettet. Trotzdem muss Sanktion natürlich sein. Die Behördenkreatur erklärt außerdem, dass nun die Staatsanwaltschaft auf dem Plan gerufen sei, denn wäre der Arbeitslose dort erschienen, würde er jetzt nicht mehr anspruchsberechtigt sein, sprich: Eigentlich ist er nun im Zustand des Erschleichens von Sozialleistungen. In jenem Text spricht der Arbeitslose kein Wort, wörtliche Rede verlieh ich nur dem Behördenmenschen. So wollte ich den Mundtod einer ganzen Gesellschaftsschicht dokumentieren. Ein hilfloser literarischer Versuch, den man auch nur eine Kurzgeschichte lang durchhalten kann.
Ich hatte das Glück, mich in Buchstaben verlieren zu können. Habe mich, ob schlecht oder weniger, in Literatur geübt. Habe darüber verarbeitet und vergessen - oder jedenfalls verdrängt. Wurde mir darüber bewusst, dass ich kein Nichtsnutz bin, wie es die Hartz-Gesetze als Indoktrinierung vorsehen. Welche Wunden schlägt diese psychische Gefährdung bei Menschen, die nicht den Luxus besitzen, sich adäquat darüber auszulassen?
In jenen Jahren schwebte mir noch ein weiterer Text im Kopf herum, der nie Wirklichkeit wurde. Es war eher ein Gedankensplitter, zu dem mir nicht ausreichend Handlung einfiel. Ich stellte mir Hartz IV oft bildlich als Halsgeige vor, als einen Kranz, der sich eng um den Kragen schmiegt und der irgendwelche lähmenden Impulse unter die Haut jagt. Ich imaginierte mir Hartz IV als eine Krause, die wahlweise auch das Selbstvertrauen aus einem zieht. Überdies dachte ich, dass die Halsgeige als metaphorische Vorrichtung besser geeignet ist, als ein Pflaster, das statt Nikotin, irgendwelche paralysierenden Hormone in die Haut einsickern läßt. Denn eine Halsgeige ist für jeden sofort sichtbar. Und als Hartz IV-Empfänger glaubt man sich stets enttarnt. Irgendwann denkt man, die ganze Welt weiß es. Gerade so als trage man ein Stigma. Dass einige Arbeitsloseninitiativen sich Logos gaben, die leicht als Abwandlung des berühmten Sterns auf der Brust oder dem Arm von Juden zu entlarven waren, verwunderte mich nie. Das habe ich immer als Ausdruck dieses tristen Lebensgefühls empfunden.
All diese kafkaesken Texte zeigen, welche Gedankenwelt ein Leben in Hartz IV erzeugt. Das Bild, das ich von mir selbst hatte, hat sich in jenen Jahren schwer gewandelt. Gefühle der Minderwertigkeit kehrten ein. Phasenweise streikte ich gegen mich selbst, gegen diese Ruine meiner selbst, ohne natürlich zu einem Ergebnis zu kommen. Verfolgungsbetreuung und Gängelung hat sich bei mir in Grenzen gehalten. Das Bisschen, was es davon gab, hat mir aber wahrlich gereicht. Wer merkt, dass er eine Karteileiche oder ein Prämientopf für sanktionswütige Fallmanager ist, gerät ganz automatisch in eine seelische Krise. Dazu kommt die Angst. Die fehlenden Perspektiven und die fatalistische Haltung, nur noch von Tag zu Tag zu leben. Wo sehen Sie sich in fünf Jahren? kann man einen Langzeitarbeitslosen in einem Bewerbungsgespräch nicht fragen. Er hat sein perspektivisches Denken aufgegeben oder verlernt. Würde er es sich bewahren, müsste er sich schmerzhaft ausmalen, dass er in einem, zwei oder drei Jahren immer noch so tief in der Scheiße hockt. Wer das zu oft tut, spielt sein Ableben durch. Ach, wenn es nur schnell vorbei gehen würde ...
Ob ich nun meine gescheiterte Ehe noch mit auflisten soll? Eher nicht, Hartz IV kann nicht für alles haftbar gemacht werden. Aber mitgewirkt hat es. Man darf bei diesen Drittel an psychisch erkrankten Langzeitarbeitslosen durchaus annehmen, dass viele wegen einer belasteten Partnerschaft zum Psychologen gehen. Geld ist ein leidiges Thema. In allen Beziehungen. In armen Bedarfsgemeinschaften wird dieses Thema allerdings zum fast unüberwindbaren Härtefall.
Hartz IV ist vieles: Ungerecht, durchtrieben und zu wenig. Und nicht nur deswegen zu guter Letzt psychisch belastend und verstörend. Und das ist kein Nebeneffekt, den man abstellen möchte, wie Heinrich Alt so nett verspricht. Er sieht darin ganz telegen einen Anreiz zur Verbesserung. Aber die kann gar nicht gewollt sein. Man braucht eine Schicht von Menschen, die so wenig Selbstbewusstsein hat, dass sie jeden Scheißjob annimmt. Man will die Moral dieser Leute zerstören, damit sich kein Protest, keine Bewegung formiert. Sie sollen mit ihrer Seele ringen, nicht mit Sozialrichtern oder gar bei Demos mit Polizisten. Innere Einkehr und Emigration statt extrovertiertes Bewusstsein der eigenen Misere.
Sie haben dieses Konzept ganz bewusst so ausgewählt. Die Erkrankten sind kein Kollateralschäden, sie werden auch nicht in Kauf genommen - man will sie. Ein Sozialgesetzbuch, das die Menschen, für die es gelten soll, vorab skeptisch als potenzielle Betrüger und Kriminelle betrachtet, will doch nicht menschliche Würde erhalten und Leid erträglich machen, sondern eigentlich das glatte Gegenteil davon. Es ist das neoliberale Menschenbild, das da verankert ist. Mit dem Menschen als apriorischen Kriminellen, der immer geprüft, kontrolliert und bewacht gehört, damit er auf der rechten Bahn bleibt. Dazu die kleinkarierten Paragraphenreiter und Menschenschinder auf Behörden (Ausnahmen gibt es!) und eine Presse, die in der Hochzeit der Hetze, fast schon zu sozialen Pogromen aufrief. Dieses Klima war ein Selbstläufer, es musste auf Grundlage dieses Programmes namens Hartz-Konzept entstehen. Anders ist es in einer Gesellschaft, die sich neoliberalen Schlachtplänen unterworfen hat, auch gar nicht denkbar.
In so einer Gesellschaft sind letztlich nicht nur Erwerbslose depressiv, sondern alle auf ihre Art. Die Variante der Arbeitenden nennt sich Burnout, ein Gemisch aus Depression und Kraftlosigkeit. Und Schüler schlucken Pillen. Jeder nach seinen Möglichkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen! Nicht der Mensch im Neoliberalismus ist psychisch krank, sondern die Situation, in der er lebt.