Bolivien lehnt das Auslieferungsgesuch der USA für Edward Snowden ab, klackert es über sämtliche deutschsprachigen Ticker. Und ich fühle mich an eine Szene aus George Orwells 1984 erinnert, wo mitten in einer Kriegsrede gegen die ostasiatischen Feinde ein Mann mit einem Zettel komt, und die Rede plötzlich über die eurasischen Feinde und die ostasiatischen Verbündeten berichtet. Die Medien laden gerade schwere Schuld auf sich.
“Bolivien lehnt das Auslieferungsgesuch der USA für Edward Snowden ab”, verbreiten die Ticker der großen Tageszeitungen und Fernsehsender. Also haben die Bolivianer ihn, denkt der normale Leser, diese
lateinamerikanischen Mistkerle, fügt er vielleicht hinzu. Ganz besonders kluge werden möglicherweise noch zu wissen glauben, dass dieser Evo Morales, der bolivianische Präsident, ein Kommunist ist, in eine Reihe mit Chavez und Castro gehört. Der Bösewicht der Berichterstattung ist also, nachdem man die fette Überschrift gelesen hat, ganz klar Bolivien und Edward Snowden. Das klingt verflixt nach Bildzeitung.
Denn: War es etwa Bolivien, dass die Maschine eines regierenden Staatsoberhauptes eines souveränen Staates für 14 Stunden auf einem fremden Flughafen festhielt und eine Durchsuchung verlangte? Ich glaube nicht. Es war das Flugzeug von Evo Morales, das auf dem wiener Flughafen festgehalten wurde, weil Frankreich, Spanien und Portugal auf Druck der USA die Überflugrechte verweigerten. Diese völkerrechtswidrige Erpressung geschah, weil irgendwer auf den Gedanken gekommen war, dass sich Edward Snowden an Bord des Flugzeugs aufhalten könnte. Die USA haben also die Regeln verletzt, die sich seit dem 18. Jahrhundert als internationale Diplomatie und Umgangsformen zwischen Völkern und Regierungen herausgebildet haben. Es waren die USA, die ihre Gründung und ihr Aufstreben unter Anderem dieser Diplomatie verdankten, die Benjamin Franklin, der erste US-Botschafter in Paris, mustergültig beherrschte. Und sie glauben nun in maßloser imperialistischer Selbstüberschätzung und Überheblichkeit, sich an kein internationales Recht mehr halten zu müssen.
Nicht Bolivien hat das internationale Recht verletzt, sondern die USA!
Aber das ist es nicht allein: “Bolivien lehnt Auslieferungsgesuch der USA ab” impliziert für den Schlagzeilenleser, dass sich Edward Snowden tatsächlich in dem Flugzeug oder in dem südamerikanischen Land selbst aufgehalten hat. Nur ist das nicht der Fall, und darum konnte Bolivien gar nicht anders, als einen Auslieferungsantrag für eine Person ablehnen, die sich gar nicht auf seinem Gebiet befindet. Sollte mich nicht wundern, wenn diese “Ablehnung” für die USA ein Grund ist, die Beziehungen zu verschlechtern und schlimmstenfalls mit Waffengewalt zu drohen, wie im Fall der Massenvernichtungswaffen im Irak. Vielleicht könnten Menschen, die nicht viel nachdenken, sogar noch daran glauben.
Die Medien heizen den Konflikt an auf ihrer ständigen Suche nach Sensationen. Wie gestern im Fall Ägypten mit ihren Countdown-Timern bis zum Eingreifen der Armee gegen den gewählten Präsidenten. Die Medien haben ihre Quoten und ihre Gewinne. Und da labt man sich auch schon mal an missverständlich formulierten Meldungen. Eigentlich sollten sie endlich begreifen, dass es ihre Pflicht ist, zu deeskalieren, zu informieren und zur Verständigung beizutragen. Stattdessen schüren sie die Sensation.
Die letzten Masken sind gefallen, das Völkerrecht wird mit Füßen getreten, für die USA ist jetzt auch ganz offen die Souveränität eines Nachbarstaates nichts mehr wert. Welche Werte vertritt dieses Land eigentlich, dass vor 200 Jahren als der Hort der Mutigen und das Land der Freien erschien? Es hat, genau wie die europäischen Verbündeten, die Rechtsstaatlichkeit verloren. Und die Medien der westlichen Nationen drehen den Spieß einfach um und lassen das angegriffene Land als den Bösewicht erscheinen, indem sie eine Schlagzeile erfinden, die mit den tatsächlichen Gegebenheiten nichts gemein hat, ohne eine direkte Lüge zu sein: “Bolivien lehnt Auslieferungsgesuch der USA für Edward Snowden ab” ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Ein Viertel träfe es wohl besser.