Wie der „Tagesspiegel“ vor 70 Jahren im ersten Berliner Zeitungskrieg die Unabhängigkeit der SPD rettete

Vor 70 Jahren kam es unter massivem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht im Berliner Admiralspalast zum Zusammenschluss von SPD und KPD zur SED. Dass die SPD im alliierten Nachkriegsberlin als eigenständige Partei erhalten blieb, lag auch wesentlich an der Presse, namentlich des westlichen „Tagesspiegels", der sein Blatt den sozialdemokratischen Fusionsgegnern öffnete. Ein historisches Lehrstück in Sachen Pressefreiheit
„Tagesspiegel“ Jahren ersten Berliner Zeitungskrieg Unabhängigkeit retteteNach monatelanger Propagandaschlacht hatte am 22. April 1946 die sowjetische Besatzungsmacht ihr Ziel erreicht: Unter frenetischem Jubel beschlossen im Ost-Berliner Admiralspalast alle anwesenden Delegierten der SPD und KPD einstimmig die gemeinsame Vereinigung zur „Sozialistischen Einheitspartei" (SED) in der Sowjetischen Besatzungszone. Darunter waren viele sozialdemokratische Delegierten aus den Westzonen, die dafür aber kein Mandat hatten. Auch wenn die sowjetische Propaganda noch so sehr die Einmütigkeit herausstellte, war der Zwangscharakter der Vereinigung offenkundig. In Westzonen hatte sich die Sozialdemokratie unter der Führung des nationalen Antikommunisten Kurt Schumacher mit deutlicher Mehrheit gegen eine Fusion ausgesprochen. Auch in den Westzonen von Berlin hatten am 31. März die SPD-Mitglieder in einer Urabstimmung über die Vereinigung abstimmen dürfen - und diese mit überwältigender Mehrheit (82 Prozent) abgelehnt. Die SPD blieb auch nach Gründung der SED als eigenständige Kraft in den Westsektoren bestehen und dürfte aufgrund des besonderen Vier-Mächte-Status von Berlin bis zum Mauerfall auch in den Ostsektoren Büros unterhalten. Sie wurde dort aber faktisch politisch, publizistisch, ideologisch unterdrückt bzw. ignoriert.

Die Unabhängigkeit der Berliner SPD als erster Sieg der Freiheit

Dass die SPD als eigenständige Kraft erhalten blieb, war, zwei Jahre vor der Berlin-Blockade, ein wichtiges erstes Signal für den Überlebenswillen der freiheitlichen Kräfte in dieser von einem neuen Totalitarismus bedrohten Stadt. Und dass das möglich war, war wesentlich der Presse, namentlich des „Tagesspiegels" zu verdanken. „Ohne die bereitwillige Unterstützung durch ein unabhängiges Presseorgan hätte der Freiheitskampf der Berliner SPD nicht die unerwartete Breiten- und Tiefenwirkung gehabt, die wahrscheinlich die Voraussetzung des schließlich errungenen Sieges war", schrieb im Nachhinein Klaus Peter Schulz, einer der sozialdemokratischen Akteure der damaligen Zeit, in seinen Memoiren („Auftakt zum Kalten Krieg, Der Freiheitskampf der SPD in Berlin 1945/6, 198).

Bürgerlicher „Tagesspiegel" als Demokratieerzieher

Dabei hatte der „Tagesspiegel" prinzipiell nur sehr wenig mit der Arbeiterpartei am Hut, war eigentlich so ziemlich das Gegenteil einer Arbeiterzeitung. Von der amerikanischen Besatzungsmacht in Gestalt des zuständigen Presseoffizier Peter de Mendelssohn, eines 33-jährigen Münchners mit englischer Staatsangehörigkeit im September 1945 ins Leben gerufen, sollte der „Tagesspiegel" das Gegengewicht zur sowjetisch kontrollierten Presse bilden, ein „Demokratieerzieher" im Sinne der Reeducation-Politik sein, ein Werbeprodukt für eine liberale Demokratie, so wie sie die Amerikaner aus den USA kannten und so wie sie sie auch in Deutschland aufbauen wollten. Überparteilich und anspruchsvoll in Form und Inhalt, ein zeitgemäßes neues „Berliner Tageblatt", das sich vor allem an die neue und alte Elite, das Bürgertum richtete, auf Argumentationskraft und Vernunft vertraute. Also alles andere als volkstümlich. Am Anfang fehlte jede unterhaltende Rubrik im Tagesspiegel, es gab etwa keinen Sportteil. Stattdessen geistesgeschichtliche Reflexionen, moralische Predigten und Aufklärung über die Nazizeit und amerikanische Institutionen. Die Frage des Umgangs der beiden Arbeiterparteien miteinander war hier nicht primäres Interesse. Bitte auf keinen Fall politische Propaganda mehr, sondern Bildung, hieß die Devise der Redaktion um Erik Reger, eines ehemaligen linksliberalen Schriftstellers aus dem Ruhrgebiet.

Die kontroverse Frage der Fusion der Arbeiterparteien

Dabei war die Frage des Zusammenschlusses der beiden Arbeiterparteien im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit parteipolitisches Thema Nummer Eins. Der Glaube, die Spaltung der Arbeiterparteien hätte den Sieg des Nationalsozialismus erst ermöglicht und müsse nun überwunden wäre, war anfangs gerade unter Sozialdemokraten auch in Berlin weit verbreitet, während die Kommunisten zunächst hofften, mit der Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht allein gegenüber der SPD zur Massenpartei aufzusteigen. Doch in Österreich und Ungarn Kommunisten als katastrophale Wahlergebnisse erzielten, drängte nun die KPD zusammen mit den sowjetischen Befehlshabern verstärkt auf einen Zusammenschluss. Als sich die SPD in den Westzonen um den Parteivorsitzenden Kurt Schumacher mit großer Mehrheit aus Angst vor kommunistischer Vereinnahmung strikt gegen eine Fusion stellte, erhöhte die sowjetische Administration in ihrem Einflussbereich massiv den Druck auf die SPD-Funktionäre. Einheitsgegner wurden parteiintern mit allen Mitteln n die Seite gedrängt und mundtot gemacht. Das SPD-Parteiblatt „Das Volk" durfte wie die andere sowjetisch kontrollierten Presseorgane nur von begeisterten Einheitsanhängern berichten.

Der Tagesspiegel als Anwalt der westlichen Demokratie

In dieser Situation erkannte der bürgerliche „Tagesspiegel" eine erste Bewährungsprobe für das westliche Demokratieverständnis, als dessen Anwalt er qua Geburt fungieren wollte. Nicht unumstritten öffnete die Redaktion ab Mitte Februar ihre Seiten für die Anliegen der rebellierenden SPD-Mitglieder und gab damit den strikt überparteilichen Anspruch des Blattes vorübergehend auf. Erik Reger klärt in einem Leitartikel am 19. Februar 1946 die neue Situation mit der Bedrohung grundlegender demokratischer Prinzipien durch eine kommunistisch dominierte Massenpartei:
Mit Tarnungen muß es nun zu Ende sein, gleichwie es mit jeder Diktatur, jeder Tyrannei und allem, was auch nur entfernt nach totalitärem Staat aussieht, zu Ende sein muss. ‚Massenparteien' haben nicht die Aufgabe, die Persönlichkeit der Masse unterzuordnen, sondern umgekehrt aus der Masse Persönlichkeiten herauszubilden. Sozialismus heißt nicht Proletarisierung des Bürgertums, sondern Aristokratisierung der Arbeiterschaft. Bisher (...) ist alles den verkehrten Weg gegangen. Statt der Vermassung entgegenzuwirken, unterstützte man sie und mit ihr den einzigen Boden, auf dem die Tyrannei gedeiht. Der ‚Tagesspiegel' ist unabhängig von Parteien, aber nicht parteilos. Seine Partei ist Recht und Gerechtigkeit, ist Wahrheit, Menschlichkeit und Menschenwürde, ist Freiheit, Friede und Völkerversöhnung. Seine Partei ist der Geist der produktiven Toleranz, die den Kampf nicht scheut und dort ihre Grenzen hat, wo die Grundsätze der Demokratie in Frage gestellt wird, sei es durch Gesinnung, Haltung oder Phraseologie. "
Die publizistische Unterstützung von ungewohnter Seite, dazu von den US-Presseoffizieren mit einer großzügigen Auflagesteigerung befeuert, forderte die sowjetische Publizistik unmittelbar heraus, zumal die SPD-Rebellen in Berlin eine parteiinterne Urabstimmung durchsetzten. Jetzt wurde mit offenem Visier gekämpft.

Erster Berliner Zeitungskrieg

Auf der einen Seite Erik Reger mit seinem Tagesspiegel, auf der anderen Seite Rudolf Herrnstadt mit seiner Berliner Zeitung. Der intellektuelle und kluge Propagandist und Agitator der sowjetischen Besatzungsmacht war die große prägende deutsche Persönlichkeit der kommunistischen Nachkriegspresse in Berlin, wurde später Chefredakteur des „Neuen Deutschland" und Mitglied im Politbüro der SED. Als der Tagesspiegel ab dem 15. Februar 1946 im Vorfeld des parteiinternen Wahlkampfes zu einer „kleinen SPD-Informationszentrale" mutierte und täglich mindestens eine Seite dem „Kampf um die Freiheit" vorbehalten war, übergoss Rudolf Herrnstadt die Tagesspiegel-Redaktion mit beißenden Spott. „Die naiven Leser des ‚Tagesspiegel` dürften sich heute morgen erstaunt die Augen gerieben haben. (...) Er, das ‚parteiungebundene' Organ, das nicht genug über die ‚parteigebundenen' Blätter höhnen konnte, stellt sich ihnen ...hier stockt die Feder... als Parteiorgan kann man nicht sagen, als Parteiersatzorgan, als Ersatzorgan einer Ersatzpartei, als Ersatzparteiersatzorgan vor. Er teilt seinen Lesern mit, daß er zum Organ der oppositionellen ‚Sozialdemokraten' geworden sei." Dunkel raunte Herrnstadt über die „ die Hintermänner des ‚Tagesspiegel', [...] jenen mit den Berliner Wellen ringenden Resten des Monopolkapitals in Deutschland." Diese wären „ die tiefere Erklärung dafür, daß er sich dem Häuflein oppositioneller Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei zur Verfügung steht."

Publizistischer Trommelwirbel

Der gut zwei Woche anhaltene mit Auflagen und Aufsätzen geführte Krieg um die richtige Gesinnung wurde von beiden Seiten mit allerlei publizistischem Trommelwirbel geführt und stellte einen ersten echten demokratischen Wettkampf her. In jenen Tagen ließ der Tagesspiegel keinen Artikel oder andere grundsätzliche wichtige Verlautbarungen, die in den Zeitungen des sowjetischen Sektors erschienen, ohne Antwort. Immer wieder gehörten auf beiden Seiten mehr oder weniger direkte Anleihen an die nationalsozialistische Zeit zur jeweiligen publizistischen Strategie. Der Tagesspiegel druckte am 23. März 1946 sogar Auszüge der historischen Rede von Otto Wels aus dem Jahr 193, der berühmten letzten Rede eines Sozialdemokraten im Reichstag. Auf diese starke publizistische Gegenoffensive der sozialdemokratischen Fusionsgegner reagierte die sowjetisch lizenzierte Presse vor allem mit Berichten über den vermeintlich freien Willen zur Einheit.

Und die Völker der Welt schauten auf Berlin

Doch alle sophistische Wortklauberei konnte den Erfolg der SPD-Rebellen nicht verhindern. Die sowjetische Besatzungsmacht verbot zwar in ihren Sektoren kurzerhand die Urabstimmung, konnte aber diese aber in den Westsektoren nicht verhindern, so dass die fehlende innere Legitimität der Vereinigung nicht unter die Decke mehr gekehrt werden konnte. Im Ergebnis vollzog sich die erste Spaltung in der Stadt - nämlich die Spaltung der SPD. Aber gleichzeitig wuchs die Partei so im Westsektor zum Bollwerk des Freiheitswillens der Berliner Bevölkerung, zur Heimat der großen Berliner Bürgermeister, von Ernst Reuter bis Willy Brandt, die über ihr Amt hinaus die Stadt zum Lackmustest für den Behauptungswillen der freien Welt werden ließen.

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Christoph Marx
Reeducation und Machtpolitik - Die Neuordnung der Berliner Presselandschaft
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Wie der „Tagesspiegel“ vor 70 Jahren im ersten Berliner Zeitungskrieg die Unabhängigkeit der SPD rettete

Der Münchner Christoph Marx ist Publizist und Lektor und lebt in Berlin. Er arbeitet als Autor und Redakteur für viele namhafte Verlage und veröffentlichte bzw. verantwortete inhaltlich zahlreiche Werke, v.a. zu historisch-politischen, gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Themen.Referenzliste unter Autor und Redakteur/Lektor.


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