Wie der Kautschuk unter die Fingernägel kam
Von Michaela Preiner
Paraides fluten (Foto: Georg Soulek/Burgtheater)
10.
September 2017
Klimaerwärmung, Rohstoff- und Menschenausbeutung, ungebändigte Märkte und Steuerschlupflöcher. Dies liest sich wie der Kurzauszug aus einem kapitalismuskritischen Wochen- oder Monatsjournal.
Ein Vater (Peter Knaack kämpft um seine Selbständigkeit wie ein Berserker) streitet mit seiner Frau (Katharina Lorenz ist von Schuldenangst getrieben) über seine Entscheidung, eine KFZ-Werkstätte eröffnet zu haben. Einen „vogelfreien Mechaniker“ nennt sie, die um die Existenz der Familie bangt, ihn herabwürdigend. Während der wilden, verbalen Auseinandersetzung wird ihre Tochter einstweilen von der Großmutter (Elisabeth Orth ist dafür eine Idealbesetzung) beschützt, die sie aus dem Streitfeuer zieht.Der Neoliberalismus hat alle erfasst
Im neuen Stück „paradies fluten“, das im Akademietheater die Saison einläutete, behandelt der junge, österreichische Autor Thomas Köck nicht nur die großen Themen unserer letzten Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte, sondern er verbindet sie kunstvoll mit einer gut nachvollziehbaren Familiengeschichte.
An deren Mitgliedern lässt sich ablesen, an welchem wirtschaftlichen Brennpunkt sich unsere Gesellschaft heute mehrheitlich befindet: Selbstausbeutung im Neoliberalismus bis die Schwarte kracht und das eigene Haus verkauft werden muss, ist die Devise. Diese trifft letztlich nicht nur den Vater, sondern auch die Tochter (Aenne Schwarz), die nach ihrer „querfinanzierten“ Tanzausbildung von einem Job zum nächsten springt, um sich mit Auftritten auf „Honorarbasis“ über Wasser halten zu können.
Paraides fluten (Foto: Georg Soulek/Burgtheater)
Drastische Bilder am laufenden Band
Unter der Regie von Robert Borgmann, der 2014 mit seiner Inszenierung von Onkel Wanja beim Berliner Theatertreffen vertreten war, wird Köcks Text, in dem er nicht nur eine dystopische Zukunft aufbaut, sondern diese von der Vergangenheit ableitet, mit drastischen Bildern unterfüttert. Wer meint, dass die Figuren und Situationen dabei aufs Grellste überzeichnet wären, sollte sich einen Blick in das Programmheft gönnen.
Darin wird anschaulich der noch immer stattfindende Genozid an den Ureinwohnern Brasiliens beschrieben, die von Großgrundbesitzern auf brutalste Art und Weise durch gedungene Mörder gemeuchelt werden. Borgmann lässt das Ensemble im Schlamm baden, sich mit Theaterblut bespritzen, am glitschigen Boden gleiten und – die Metapher ist höchst gelungen – immer und immer wieder auf diesem auch ausrutschen. Viele von uns fühlen sich derzeit tatsächlich so, als würde der Boden unter ihren Füßen sie nicht mehr tragen. Zu groß ist die materielle Ungewissheit, die vor allem Kreative und Selbständige erfasst hat.
Paraides fluten (Fotos: Georg Soulek/Burgtheater)
Die Dystopie als Bühnenkonstrukt
Thea Hoffmann-Axthelm schuf eine unglaublich wandelbare Bühnenformation. Mit einem riesigen Stoffsegel, das sich im Laufe der Vorstellung als Plastikbahnen entpuppt, nimmt sie Protagonisten mit in schwankende Höhen. Der Mast oder Stamm, an dem die Bahnen zum Teil nach oben und unten entlanggleiten, besteht aus schwarzen Kautschukbahnen. Aus jenem Material, das Köck exemplarisch heranzieht, um an seiner Verbreitung die Geschichte des Turbokapitalismus zu erzählen.
Nach der Pause, die erst nach 2 Stunden angesetzt ist, schlüpft das Ensemble in barocke Kostüme. Mit Reifrock bewaffnet, versucht Sylvie Rohrer in der Rolle eines „Entwicklungshelfers“ ihrem Widersacher Philipp Hauß (mit geschientem, linken Bein) klarzumachen, dass die kapitalistische Eroberung von Südamerika eine Wohltat für die Einwohner sei. Womit Köck den unglaublichen Zynismus, der auch heute noch weltweit gegenüber Menschen an den Tag gelegt wird, die gerade dabei sind, durch Landwegnahme ihre Existenzgrundlage und ihr Leben zu verlieren, aufdeckt.
Paraides fluten (Foto: Georg Soulek/Burgtheater)
Paraides fluten (Fotos: Georg Soulek/Burgtheater)
Der Klimawandelkiller
Die Klimaerwärmung, die Gletscher schmelzen lässt und den Meeresspiegel steigen, die Stürme ungeahnten Ausmaßes hervorbringt und ganze Landstrichte und Städte unter Wasser setzt, auch sie ist eines der Hauptthemen des Abends. Graue Asche, verstreut durch Sabine Haupt und Alina Fritsch, kommt immer wieder zum Einsatz. Sie markiert den nahen Tod jener Personen, die damit in Berührung kommen. Zu Beginn nehmen die beiden Frauen in einer langen, ruhigen Szene als „ die von der Prophezeiung Vergessene“ und „ die von der Vorhersehung Übersehene“ das Ende kurz und bündig voraus: „Shit“ ist das einzige Wort, das über ihre Lippen kommt.
Selig, die im Alzheimer versinken
Der Kautschuk, der den indigenen Völkern im 19. Jahrhundert nicht nur gewaltsam abgetrotzt wurde, sondern ihre Stämme auch ins Verderben stürzte, brachte auch dem Vater in seiner Autowerkstatt nicht wirklich Glück. Am Ende präsentiert ihn der Autor als einen Alzheimerpatienten, der völlig in das Dunkel seiner eigenen Existenz verschwindet. Die Worte, die Köck dafür verwendet, sind die stärksten des Abends. Kunstvoller und eindringlicher, zugleich aber auch pseudo-wissenschaftlich distanzierter wurden die Folgen dieser Krankheit kaum zusammengefasst.
Köcks Stück wurde 2015 zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen und 2016 mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet. Wer sich einen erbaulichen Theaterabend erwartet, ist definitiv fehl am Platz. Wer erleben möchte, wie sich unaussprechliches Leid, Katastrophen und menschliche Tragödien in ein Theaterkorsett gießen lassen, das zwangsläufig an allen Enden und Ecken platzen muss, wird mit einer Inszenierung belohnt, die jede Menge optische Opulenz und Gedankenfutter anbietet. Die im Stück postulierte Feststellung, dass Kunst nur dazu diene, den Gräueln und Ungerechtigkeiten dieser Welt im Nachhinein gedankenberuhigende Mahnmale zu setzen, wird damit zum Glück widersprochen.
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