Tatsächlich erinnert Lanz' Frage- und Moderationsstil erstaunlich an jenen Herrn Kracht. Auch dann, wenn er nicht gerade unliebsame Politiker penetriert. Das strikte Dazwischenreden ist auch dann der Fall, wenn er nicht "auf Touren kommt". Zwischenfragen, bevor der Sprechende fertig ist mit seinen Ausführungen, musste nicht nur Wagenknecht erdulden. Bei ihr war es nur besonders virtuos.
Um genauer zu sein, war das, was Olaf Kracht zwischen 1989 und 1994 leistete, gar nicht Moderation. Denn moderat, zwischen Gesprächsteilnehmern vermittelnd, trat er nicht auf. Sein Ziel war es, die Diskussion immer wieder auf die Spitze zu treiben, Streit zu entfachen und "es laut werden zu lassen". Der Erkenntnisgewinn war dabei eher zweitranging. Primär ging es darum, dass sich die Teilnehmer fetzten und dass das Publikum an den Bildschirmen in eine emotionale Achterbahnfahrt aus Wut, Spott und Überlegenheitsgefühl gerät. Hierzu musste der Leiter der Sendung auch Mittel anwenden, die eben nicht als klassische Moderation anzusehen sind. Michael Klemm weist in einer Arbeit über Der heiße Stuhl und Einspruch! darauf hin, dass die Strategie der Moderatoren darauf abziele, das "Image des Gastes anzugreifen (...) Indem er über dessen Arbeit spottet (...) und sie abwertet (...), dessen Glaubwürdigkeit und Integrität anzweifelt."
Klemm sieht diese "positive Selbstdarstellung des Moderators" als wesentlichen Bestandteil dieses Formats an, das man als Confrontainment bezeichnen könnte. Kracht hat in seiner Sendung unterschwellig und "stets in ironischem Ton" angedeutet, dass bestimmte Gäste in ihrem Lebenswandel unsolide seien. Das erreichte er mit provokanten Zwischenrufen und Unterbrechungen - und damit, den Gesprächspartner gar nicht richtig argumentieren zu lassen. Kracht sah sich als Provokateur, der die Diskussion als eine Art advocatus diaboli führe und so den Streit nähre.
Man hätte sich das Gespräch zwischen Lanz, Jörges und Wagenknecht auch in die Szenerie von Der heiße Stuhl vorstellen können. Lanz als Kracht, Wagenknecht als Person auf dem Stuhl und Jörges als der Pulk wahllos brüllender Aggressivlinge. Was die Rolle Lanzens betrifft, scheint das aber kein Zufall zu sein.
Spekulieren wir doch mal darüber, wie gierig der junge Lanz ins Fernsehen wollte und wie er sich bei den Trendsettern jener Dekade abschaute, wie man polarisiert und wie man "neu und modern talkt". Das musste man können, wollte man für das private TV interessant sein. Dieser unflätige und freche Moderationstypus, der ins Wort fiel und seine Gäste lächerlich machte, der spekulative Behauptungen aufstellte und die Zornesröte in den Gesichtern der Gesprächsteilnehmer als höchste Auszeichnung für sich in Anspruch nahm und der seine vollendete Perversion in Der heiße Stuhl gefunden hatte, beeinflusste Lanz ganz offenbar sehr stark.
Wer im Privatfernsehen und vor allem bei RTL in jenen Jahren Fuß fassen wollte, der musste frech und arrogant sein, durfte nicht an all den überkommenen Anstandsregeln im zwischenmenschlichen Dialog kranken. Förderlicher war da ein ausgeprägter Narzissmus, den man mit unverschämter Überheblichkeit paaren können sollte. Das waren die Neunziger! Da war man wer, wenn man sich nur so benahm, als ob man wer war. Das ging besonders gut, wenn man seine Mitmenschen behandelte, als seien sie nichts. Mit dieser Attitüde betrieb man Fernsehen. Man kalkulierte den Tabubruch. Hier waren schon all die gescripteten "Tabubrüche" angelegt, die heute das Programm bei RTL bestimmen. Der homo nonagesimus glaubte jedenfalls in jenen Jahren einen ganz neuen Stil entworfen zu haben. Andere entlarvten den einfach nur als selbstgefälliges Rowdytum.
Lanz steckt so gesehen immer noch in dieser Krawallo-Kultur der Neunzigerjahre fest, für die RTL von jeher eine Art rot-gelb-blaues Konservenglas war. Er pflegt einen aus der Mode gekommenen Stil, der dem Zeitgeist entstammt, in dem er noch ein Twen war. Er ist ein Confrontainer alter Schule. Natürlich nicht mehr ganz so direkt und durchschaubar wie die Meister der Gilde damals. Aber dieses Ideal blitzt bei ihm immer wieder durch. Dass er zum Beispiel nicht mal auf die Idee kam, Jörges infantiles Geschrei zu deeskalieren, hängt auch mit diesem ganz besonderen Verständnis von "Moderation" zusammen. Denn als er sich abschaute, wie man bei RTL Talk macht, da waren alle Gesprächsteilnehmer als Rüpel eingeplant. Und Rüpel weisen sich nicht gegenseitig in die Schranken. Sie geben dem Affen Zucker und setzen immer noch einen drauf.
Wie gesagt, als Lanz bei RTL landete, war Krachts Format schon wieder aus dem Programm verschwunden. Aber dieser Stil aus ruppigen Zynismus, provokanter Arroganz und yuppiesken Zügen schlug immer mal wieder durch. Allerdings polarisierte diese Form von Talk niemals mehr in dem Maße. Bis neulich eben, als das Confrontainment kurzzeitig ein Revival erlebte und die Öffentlichkeit so tat, als habe es derartige Entgleisungen noch nie gegeben. Hat sie Olaf Kracht vergessen? So lange ist das nun auch nicht her.
Als Markus Lanz beim ZDF landete, da geriet auch Der heiße Stuhl und sein Vermächtnis, diese Moderation auf Grundlage der Provokation und Eskalation, in den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ein Lapsus oder ein schlechter Tag, wie das ZDF oder einige Freunde Lanzens Verhalten entschuldigten, war das nicht. Eher ein Bekenntnis zum dem Talkstil, den er sich seinerzeit abgeschaut hat und der bei RTL als seriös galt. Der Mann steckt noch immer in den ach so coolen und fetzigen Neunzigern fest, in denen man über alles laut und krachend talken wollte.
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