Wie das Internet mein Gehirn gewaschen hat

Von Florianprokop

Ich kann keine Bücher mehr lesen. Dabei habe ich es geliebt. Tagelang habe ich Geschichten gelesen: Die unendliche Geschichte, alle Harry Potter Teile, Herr der Ringe und unzählige Gruselgeschichten... Wirklich, ich war eine richtige Leseratte. Gibt es das Wort überhaupt noch?

Letzten Sommer war ich an der lykischen Küste in der Türkei. Mit im Gepäck hatte ich ein Buch und große Lust es zu lesen. Endlich mal wieder eine richtige Geschichte! Doch dann am Strand schaffte ich es einfach nicht mich auf die Seiten zu konzentrieren. Ich las ein paar Zeilen und wendete meinen Blick ab. Dann las ich weiter oder besser: ich beobachtete wenigstens die Worte. Beim nächsten Versuch merkte ich wie ich einfach ganze Abschnitte ausließ.

Mein Verstand schaffte es einfach nicht mehr, sich auf dieses verdammte Buch zu konzentrieren. Ich behandelte das Buch im Prinzip wie ein Smartphone. Anstatt ruhig mit den Augen Zeile für Zeile abzuwandern und immer weiter in die Welt des Buches zu tauchen, tat ich gedanklich tausend Dinge gleichzeitig. Ich war plötzlich zu dumm ein Buch zu lesen.

Ich fing an, nachzuforschen. Die Erkenntnisse waren kurz gesagt: beängstigend.

Der Gedanke, ich könnte das Lesen verlernt haben, ließ mir keine Ruhe. Wie hat sich meine Art zu Lesen genau verändert? Welche Rolle spielt das Internet dabei? Wenn sich das Lesen verändert hat, hat sich auch das Schreiben verändert. Was bedeutet diese Veränderung für mich, aber auch für den Journalismus?

Früher -so um die Jahrtausendwende- habe ich ein Buch noch wie ein Buch gelesen, und nicht wie das Internet. Linear, Zeile für Zeile, von links nach rechts, von vorne nach hinten. Aber damals gab es das Internet, so wie es heute ist auch noch nicht. Es gab keine Smartphones.

Heute leben wir in einer Informationsgesellschaft- wir sind vom Internet und von den darin enthaltenen Informationen umgeben: Whats-App Chats, Facebook Streams, Google Ergebnisse, Nachrichten, Fotos, Songs, Videos, alles will gern gelesen, will konsumiert werden. Es tobt ein Kampf um unsere Aufmerksamkeit.

Wir lesen und konsumieren auf Bildschirmen. Laut der ARD/ZDF Onlinestudie 2014 benutzen wir das Smartphone 195min am Tag. Den Laptop zusätzlich 108min täglich.

Eine weitere Studie, die der Telegraph auf seiner Webseite veröffentlicht hat, misst Informationen in Gigabyte: 34 sind es pro Tag. Oder 174 Zeitungen. Oder 100.500 Worte. Pro Tag. Jeder und alles will im Internet unsere Aufmerksamkeit und zwar jetzt!

Bei meiner Recherche stoße ich auf das Buch „Wer bin ich, wenn ich online bin- und was macht mein Gehirn so lange?" von Nicholas Carr. Er beschreibt genau dieses Phänomen: Den Verlust der Fähigkeit, beim Lesen in die Gedankenwelt eines Autors einzutauchen.

Es scheint, als ob der jahrelange Konsum von Internetseiten, auf Laptops oder mobilen Endgeräten es uns unmöglich gemacht hat, längere Texte zu lesen.

Und bei Carr klingt es fast, als könne ich nicht mal etwas dafür.

Das Geheimnis: neuronale Plastizität

Der Wirtschaftsjournalist hat sehr sorgfältig wissenschaftliche Erkenntnisse aus Geschichte, Philosophie, Erziehungswissenschaft, der Kommunikationswissenschaft und anderen Wissenschaften zusammen getragen. Unter Anderem zeichnet er den Übergang der Sprach- zur Schriftkultur und die damit verbundenen Veränderungen des menschlichen Geistes- der menschlichen Intelligenz- nach.

Besonders spannend sind die Erkenntnisse aus der Neurobiologie, die Carr anführt. Er erklärt die Gehirnfunktion der neuronalen Plastizität: Die Nervenzellen unseres Gehirns sind flexibel und strukturieren sich durch die Dinge, die wir tun und auch die Gedanken, die wir haben, um.

Durch flexible Nervenzellen konnte das Lesen durch den Menschen überhaupt erst erlernt werden. Die erforderliche neuronale Verbindung wurde geknüpft. Konzentriertes, tiefes Lesen regt laut Carr intellektuelle Vorgänge an. Das Gehirn verarbeitet das Gelesene, ordnet es in den eigenen Wissenshorizont ein. In der Konsequenz bildet der Leser eigene Schlüsse und Analogien.

Die Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeit revolutionierte unsere Art zu denken. Plötzlich war die Menschheit in der Lage, lange, lineare Gedanken niederzuschreiben und somit haltbar zu machen. Wissen konnte von nun an besser geteilt werden. Erkenntnisse wurden aufgeschrieben und man konnte sie nachlesen. Ein gutes Buch ist sehr komplex aufgebaut, eine eigene Welt eben, in die ich dort am Strand einfach nicht mehr eintauchen konnte!

Meine Generation hat sich durch die Benutzung des Joysticks ein besonders großes Hirnareal für den Daumen antrainiert. Der Moment, wenn ich ein früher auswendig gelerntes Gedicht rekapituliere und es mir nach und nach wieder einfällt, ist auch ein Resultat der flexiblen Nervenzellen und ihrer Eigenschaft der neuronalen Plastizität.

Die Evolution verläuft sehr langsam. Wir besitzen exakt dasselbe Erbgut, wie Menschen, die gelebt haben, als es noch gar keine Schrift gab. Der Fortschritt unseres Denkens ist den flexiblen Nervenzellen zu verdanken. Sie reagieren auf die Art, wie wir Leben und Denken. Aber wer sagt, dass jede Entwicklung des Gehirns gut ist?

Carr schreibt: „Unsere Nervenzellen sind zwar plastisch, aber nicht elastisch. Sie schnalzen nicht einfach wie ein Gummiband zurück in ihre Ursprungsposition."

Nun hat also das Lesen auf Displays mein Gehirn neu strukturiert.

Vom Buch zur Internetseite

Die Art, wie ich auf Bildschirmen lese verändert mein Gehirn. Wie hat sich das Lesen auf Monitoren und Screens entwickelt? Carr gibt einen kurzen Abriss der Entwicklung der Oberflächen von Webseiten durch die Programmiersprache „html". Sie waren Anfangs einfache Textseiten, denen in einem Buch sehr ähnlich.

Der große Unterschied im Internet allerdings: Hyperlinks, also Seitenverbindungen. Hyperlinks erzeugten ein Leseverhalten, bei dem Texte bruchstückhaft gelesen werden. Gezielt sucht der Internetuser nach Informationen, liest entsprechende Textbausteine und klickt sich zum Nächsten. Internetseiten begannen, sich gegenseitig als Zeichen für Relevanz und Seriosität zu verlinken. Je mehr Links auf eine Seite verweisen, desto relevanter wird sie.

Das erkannten auch Larry Page und Sergey Brinn. Die beiden gründeten Google, die Suchmaschine, die damals Seiten nach genau diesem Prinzip rankte, also Webseiten anordnete. Heute hat sich das gewandelt, denn für Google ist nicht mehr so relevant, wie viele Links auf eine Webseite linken, sondern es geht eher um Aktualität. Sie ist eine der größten Kriterien nach denen Google das Internet mithilfe von Algorithmen durchforstet.

Das Internet entwickelte sich weiter, das Web 2.0 wurde geboren und damit „social Media" und der „information overload". Die User des Internets surfen nicht mehr einfach zu Hause durchs Internet. Das Internet ist inzwischen allgegenwärtig, jüngere Generationen haben das Gefühl, W-Lan umgibt sie wie Sauerstoff. Wir sind mobile Multitasker, die zwischen verschiedenen Anwendungen, Websites, Nachrichtenportalen, Spielen, Chats, social Media Kanälen und Neewsfeeds hin und herswitchen. Gehetzt und abgelenkt.

An diese Art zu lesen hat sich also mein Gehirn angepasst. Dafür haben meine flexiblen Nervenzellen die Eigenschaft verloren, sich vertieft und konzentriert einem Buch widmen zu können.

Ich surfe mitunter stundenlang im Internet und verplempere meine Zeit. Das Internet macht süchtig. Immer mit Freunden in Verbindung sein und ihre Chatnachrichten zu lesen bringt mich in Abhängigkeiten.

Das zunehmende Lesen im Internet lässt uns weniger Gedrucktes lesen. Am meisten spüren das die Tageszeitungen. Von einer Krise der Printmedien ist die Rede. Kaum jemand liest noch Zeitung, wenn man im Internet schnell an alle interessanten Informationen kommt. Noch dazu völlig kostenlos.

Nachrichtenseiten wollen besucht und gelesen werden. Auch Google und Facebook wollen Traffic. Webseiten müssen also so angelegt sein, das Suchmaschine und Mensch schnell und einfach die gewünschten Informationen finden können.

Verändertes Lesen- verändertes Schreiben

Ein gewandeltes Leseverhalten ändert das Schreibverhalten. Wie man im Internet effektiv textet fand die NNGroup heraus. Sie testete mit 5 verschieden aufbereiteten Webseiten gleichen Inhalts, worauf es beim Schreiben ankommt und entwickelte eine Liste mit Kriterien. Webseiten, Statusnachrichten, Blogposts etc. sollten laut NNGroup vor allem „scannbar" sein. Zu beachten sind zusätzlich folgende Strukturkriterien:

  • hervorgehobene Keywords (hyperlinks dienen dabei als eine Form der Markierung, unterschiedliche Schriftarten und Farbwechsel sind andere)
  • einleuchtende Unter-Überschriften (keine „witzigen")
  • Listenanordnungen
  • eine Sinneinheit pro Paragraph (User werden jede weitere Idee überspringen, wenn man sie nicht in den ersten Worten des Paragraphs abholt)
  • benutzen der „invertierten pyramide": mit dem Fazit beginnen
  • halb so viele Worte (oder weniger) als bei normalen Schreiben.

Außerdem erklärt die NNGroup, was unsere Augen tun, wenn wir Webseiten lesen. Bücher las ich früher linear: Zeile für Zeile, von rechts nach links. Heute scanne ich Webseiten in Form des Buchstaben F. Ich lese die oberste Zeile, überfliege dann die Anfänge der nächsten Zeilen, und wenn ich dann auf eine weitere für mich interessante Information stoße, lese ich vielleicht noch eine zweite Zeile quer. Dann überfliege ich den Rest. In sekundenschnelle bewegen sich meine Pupillen also wie ein großes „F" über die Webseite.

Dies konnten die Forscher der NNGroup mithilfe einer „ Eyetracking-Studie ", also einer Studie, die die Bewegung der Augen verfolgt, messbar machen. Dazu untersuchten sie die Augenbewegungen von 232 Usern auf tausenden von Webseiten.

Reaktionen

Gerade kommerzielle Webseiten machen sich diese Erkenntnisse zunutze. Auch Buzzfeed und Upworthy wollen immer mehr Nutzer erreichen. Im Kampf um Leser haben beide Webseiten eine eigene Taktik, die ich nachstehend kurz erläutere.

Buzzfeed

Buzzfeed's Slogan lautet „news buzz life" und ist eine trashig wirkende Internetseite, die mit Artikeln wie „Why I bought a house in Detroit for 500 Dollar" oder „How Einstein told Marie Curie: HATERS GONNA HATE!" um Leser wirbt.

Dieses Start-Up ist das Resultat einer Idee des Amerikaners „Jonah Peretti", dem die Ethik des Journalismus, die die Trennung von Redaktion und Werbung gebietet, nicht so wichtig ist. Vielen Journalisten oder Kommunikationswissenschaft dreht sich bei seinen Worten wahrscheinlich der Magen um:

„Die klassischen Medien haben den Fehler gemacht, Werbung als notwendiges Übel zu behandeln. Jetzt können sie sich das nicht mehr leisten, aber es ist zu spät." (Jensen 2014)

46 Millionen Dollar Kapital sammelte Peretti laut einem Bericht des brandeins-Magazins für sein Start-Up bei amerikanischen Konzernen.

Wie sieht die Webseite von Buzzfeed aus? Das chaotische Buzzfeed-Design strukturiert die Artikel mit nicht besonders trennscharfen Labels wie „omg!", „wtf" „cool" oder „fail". Etwas versteckt findet sich auch eine „news-section", in der Journalisten politische Artikel schreiben.

Folgende Schlagzeilen springen mir bei einem Besuch ins Auge:

4 6 Reasons You Need To Pack Up And Go To Norway Right Now (it's basically a real life fairy tale)

Es handelt sich hierbei um eine zugegeben kurzweilige und beeindruckende Fotostrecke mit Eindrücken von Norwegen: Fjorde, Trolle, Fischerdörfer.

Eine andere Schlagzeile lautet:

19 Super Romantic Morning Texts Everyone Wants To Wake Up To (I had a dream about you... You died.)

Dahinter verbergen sich mittellustige Minigespräche in Form von iPhone-Screenshots. Ausschliesslich Iphone-Screenshots. Nicht ein Bild kommt ohne das Gefühl, ihn auf einem Apple Gerät zu lesen, daher.

Was erst auf den zweiten Blick offensichtlich wird, ist was die ca. 200 Mitarbeiter von Buzzfeed in Manhattan da eigentlich betreiben: „content marketing" oder „native advertising" lautet der Begriff aus der PR-Praxis. (vgl. Jensen 2014)

Wikipedia definiert „native advertising" so:

Native Advertising (zu Deutsch "Werbung im bekannten Umfeld") ist eine Form der Internetwerbung, bei der versucht wird, die Aufmerksamkeit der Internetnutzer durch ein Angebot von Inhalten zu erlangen. Die Inhalte ähneln stark dem Angebot, das den Internetnutzern bereits bekannt ist; es wird so platziert, dass es primär nicht als Werbung wahrgenommen wird. Die Absicht der Werbenden ist es, die bezahlte Werbung so zu gestalten, dass diese weniger aufdringlich wirkt und doch die Aufmerksamkeit der Nutzer auf sich zieht." ( Wikipedia)

Unternehmen, Parteien oder Länder können bei Buzzfeed Artikel zur Pflege der eigenen Marke kaufen. Algorithmen unterstützen dabei die Macher: Was läuft gerade besonders gut bei reiselustigen Appleliebhabern?

Journalisten machen also Werbung in Form von Buzzfeed Artikeln. 46 Reasons for Norway ist sehr schön anzusehende Tourismus-PR. Früher nannte man das Schleichwerbung.

Upworthy

Das zweite StartUp nennt sich Upworthy- eine Website, die mit reißerischen Schlagzeilen à la: „10 Tweets Say Exactly What Needs To Be Said About What Just Went Down In Pakistan" oder „This Policeman *Refused* Orders To Shoot At Demonstrators. He Knew His Kids Would Be In The Crowd." ihre Empfänger suchen.

Brandeins berichtet, Eli Pariser konnte immerhin12 Millionen Dollar Kapital für sein Projekt Upworthy sammeln. Die Webseite von Ihm und seinem Partner Peter Koechley war bei Launch 2012 mit 88 Millionen Usern täglich die am stärksten besuchte Webseite weltweit. Sie trägt den Slogan „things that matter. pass ‚em on!" und hält noch einen weiteren Rekord: Keine andere Gemeinde im Netz verschickt Artikel so oft wie die Leser von Upworthy.

In stark personalisierten Storys, die Text, Sound und Videobits zu einem Artikel vereinen, portraitiert Upworthy in pointierten Sätzen das Schicksal der Armen und Ausgebeuteten dieser Welt. (vgl. Jensen 2014)

Auf die Boulevardisierung und anhaltende Personalisierung der Medien angesprochen, entgegnet Pariser folgendes:

„Uns geht es nur darum, die Botschaft in die Welt zu tragen. Die Geschichten vom ärmsten Drittel der Weltbevölkerung sind total unterrepräsentiert in den Medien und uns ist jedes Mittel recht, das zu ändern. Emotionale, manipulative Überschriften sind unsere stärkste Waffe, mit der wir Aufmerksamkeit auf uns ziehen."

Peretti und Pariser haben völlig unterschiedliche Motive, wahrscheinlich sogar ein gegensätzliches Weltbild. Aber ihnen ist eins gemein: Sie versuchen, eine neue Art von Journalismus für eine neue Art von Lesern und Konsumenten zu entwickeln.

Es ist nur logisch, das Webseiten gewisse Taktiken anwenden, damit wir sie besuchen, ihre Inhalte konsumieren und lesen. Ich bevorzuge ja selber die leicht zugänglichen und konsumierbaren Aufbereitungen.

Nicht nur mein Gehirn hat sich also an das Medium Internet angepasst, das Internet hat sich auch mir angepasst. Frei nach Nietzsche: Wenn man zu lange auf einen Bildschirm starrt, starrt der Bildschirm in uns selbst.

Epilog

Nicholas Carr sagt: Mit der Art, wie ich lese hat sich auch meine Art zu denken verändert. Wer nicht mehr linear liest, denkt nicht mehr linear. Meine Denkart hat sich einer technischen Denkart, also der Art, wie mein Smartphone denkt, angepasst. Provokant gesagt: Ich bin nur noch künstliche Intelligenz.

Der Teil unseres Gehirns, den wir fürs tiefe Lesen brauchen wird zunehmend überlagert von der Fähigkeit, die wir stattdessen gebrauchen: Die Fähigkeit, schnell servierte Häppcheninhalte zu konsumieren. Damit wird es uns schwerer fallen, komplexeren Gedanken zu folgen. Carr bezeichnet das als eine Art Entfremdung- wir verlieren laut ihm „Vernunft, Beobachtungsgabe, Gedächtnis und Gefühle".

Das vertiefte, konzentrierte und genussvolle Lesen, bei dem man ganz in einer Geschichte aufgesogen wird und stundenlang nichts anderes tut, wird wohl zukünftig eher ein Workout für mich sein. Spätestens im nächsten Sommerurlaub am Strand. Oh, guck mal: Möwen!

Quellen:
Carr, Nicholas (2010): Wer bin ich, wenn ich online bin...: und was macht mein Gehirn solange? Blessing Verlag
Internetquellen sind im Text verlinkt