Wie das Gestern zum Morgen wird

Das Team des Schauspielhauses in Wien widmet seine diesjährige fünfteilige Serie Stefan Zweigs Werk „Die Welt von Gestern“. Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Zweigs Rückschau über das Leben in der Donaumonarchie bis zum Jahr 1939 fungiert als Ideengeber und nicht als Textbuch. Analog zu Zweigs monumentaler Erinnerungsarbeit wurden 100-Jährige in Wien interviewt und fünf ihrer Portraits in Szene gesetzt.
Schauspielhaus Wien Margarethe Tiesel & Michael Gempart im Schauspielhaus Wien (Foto: Schauspielhaus Wien) Wie das Gestern zum Morgen wird

Für den Auftakt wurde Anne Habermehl verpflichtet, die in dieser Saison schon einmal mit ihrem Text „Wie Mücken im Licht“ – grandios von Gideon Maoz umgesetzt – brillierte. Sie untertitelte die Arbeit ihres neuen Werkes „Glanz und Schatten Europas“ und erzählt darin anhand eines alten Ehepaares die Entwicklung vom Jahr 1914 bis in unsere heutigen Tage. Wie immer, wenn das Schauspielhaus zu einer Abendwanderung aufruft, trifft sich das Publikum zu Beginn im Nebenhaus. An die Wand projiziert verfolgt man eine Fotoserie, in der man Bilder vom Beginn des vorigen Jahrhunderts bis rund in die 60er Jahre sehen kann. Aufnahmen von Handwerkern, Postkarten aus Berlin und Wien, man erblickt Schwimmbäder, Eisläufer aber auch junge Menschen, werbemäßig fröhlich über ein Kofferradio in die Kamera blickend.

Noch ist nicht klar, was dieser zeitlich große Bogen bedeutet – erst im Laufe der Erzählungen von Margarethe (Margarethe Tiesel die erst jüngst in Ulrichs Seidl Film Paradies: Liebe reüssierte) und Michael (Michael Gempart im Ensemble des Burgtheaters seit 2004 und Schauspielhausbesucherinnen und -besuchern längst auch ein Begriff) wird klar, dass es ihre Lebensspanne ist – die hier anhand von Fotos beispielhaft markiert wurde. Plötzlich aufsteigender Rauch macht den Verbleib im kleinen Raum des Schauspielhauses ungemütlich und befördert den Drang, ins Freie zu gehen und die Porzellangasse zu verlassen. Im Pulk geht es dann in die Liechtensteinstraße, die Strudlhofstiege hinauf bis zum Palais Strudlhof – jenem Haus in welchem 1914 das Unheil bringende Ultimatum Österreichs an Serbien unterzeichnet wurde. Es ist schließlich auch das Originalzimmer, in welchem das Ultimatum unterschrieben worden war, in welchem auf Bierbänken im düsteren Ambiente Platz genommen wird – welch ein Unterschied zu jenen Prachträumen, die allgemein für Friedensabschlüsse herangezogen werden. Klein und dunkel getäfelt ist er, an der Decke hängen einige Kristallluster, die jedoch nicht eingeschaltet sind. Große Glastüren führen von ihm in einen Wntergarten, der jedoch zu Beginn noch nicht wirklich sichtbar wird.

Er wird im übertragenen Sinne im Laufe des Geschehens noch eine Rolle spielen, doch bis es soweit ist, erzählen abwechselnd Margarethe und Michael von ihrem Leben. Zwei Personen, ein Ehepaar – und dennoch zwei gänzlich unterschiedliche Lebensentwürfe, die nur eine große Schnittmenge aufweisen konnten – ihre Liebe zueinander. Der durch und durch politische Pazifist, der sein ganzes Leben der Politik gewidmet hat und nah am Geschehen der Neufindung Europas wirkte und die ihm stets zur Seite stehende Ehefrau, die sich nach eigener Definition immer nur an seinem Feuer wärmte, erinnern sich an ihr Kennenlernen in Paris, an ihre frühe unruhige Zeit in der sie von Ort zu Ort vaszierten. Michael kämpft bis an sein Lebensende für Frieden und stellt sich dafür als über 70-Jähriger auch schon einmal mitten auf eine Kreuzung um seiner Stimme öffentliches Gehör zu verleihen. „Jeder Widerstand beginnt auf der Straße“ rechtfertigt er sein Tun seiner besorgten Frau gegenüber. Margarethe hingegen, die als Hobby ihr Leben lang mit der Kamera auf Menschen hielt, schämt sich für solche Momente und versucht, so gut sie kann, die fortschreitende Demenz ihres Mannes aufzufangen. Das Jahr 1914, das Geburtsjahr von Michael, war ein Bedeutendes. Er wird nicht müde, das zu betonen, so als hätte ihm selbst dieses Datum vom Beginn seines Lebens einen Stempel aufgedrückt. So, als würde er es als Verpflichtung auffassen, sich für eine freie und gerechte Zukunft einzusetzen. Diesem rebellischen Mann wird Margarethe nicht einmal in seinen letzten Stunden Herr. Der Verkauf des Gartens, einst unumgängliche Notwendigkeit um die Last der damit verbundenen Arbeit abzuschütteln, wird für ihn schließlich zum Anstoß, das Haus zu verlassen und in den Wald zu gehen. Dort erinnert sich Michael noch einmal an all die wichtigen Dinge in seinem Leben, in welchen er sein Herz schlagen hörte, und bittet es nun, doch endlich aufzuhören zu pumpen. „Es pumpt und pumpt und pumpt“ illustriert er seine vegetative Körperfunktion und drückt damit gleichzeitig nicht nur seine Verwunderung über dieses Leben an sich aus, sondern auch seinen Lebensüberdruss, der ihn nun im Alter ereilt hat.

Schauspielerisch vom Feinsten agieren Tiesel und Gempart, unterstützt durch Habermehls eigenhändige Regieeingriffe, die sich auf wenige Lichtwechsel – Auf- und Abgänge sowie einen romantischen Tanz, umhüllt von einer roten Lichterschleife, beschränken. Mit dem Auftritt von fünf jungen Männern am Schluss spannt sich der Bogen jedoch weg vom Jahr 1914 bis weit in unsere Zukunft. Islam Dadaev, William Eggert, Marcel Held, Frederic Lodreiter und Dominik Langer stehen auf Zukunftsfragen Rede und Antwort und möchten – könnten sie mit ihren Urgroßeltern sprechen – wissen, wie es ihnen geht, ob es sich lohnt alt zu werden und wie es zur ersten Demokratie kam. Einen Beruf wünscht sich jeder von ihnen – eine Ausbildung, auch ein Jahr Urlaub wäre schön. Was kommt, ist unvorhersehbar – aber allen ist ein Leben in Frieden zu wünschen in dem sie – wie es Stefan Zweig am Beginn seiner „Welt von Gestern“ so schön beschreibt – „ein einziges Leben vom Anfang bis zum Ende (leben könnten), ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit kleinen Spannungen, unmerklichen Übergängen“. Wir befürchten, dass es nicht so sein wird, dass das Tempo unserer heutigen Zeit abermals Umstürze mit sich bringen und die Welt weiter rasant verändern wird. Habermehl spricht nichts davon aus – aber in der Fragestellung ihres Werkes ist dies bereits angelegt.

Ein Abend, der im wahrsten Sinne zum Nach- aber auch in die Zukunft denken anregt.

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Schauspielhaus Wien


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