Widerstand auf dem Bolotnaja-Platz

Von Nicsbloghaus @_nbh

Zehntausende Protestierende, blu­tige Zusammenstöße mit der Polizei, Hunderte Verhaftete und die Aussicht auf Strafverfahren für die Anführer der Opposition – das ist das Ergebnis des Massenprotestes „Marsch der Millionen“, der zur här­tes­ten Straßenauseinandersetzung der letz­ten Jahre wurde.

Pussy Riot, Foto: Wikipedia

Von Beginn an war die Aktion „Marsch der Millionen“ ange­spannt. Die Kundgebung der Opposition begann vor dem Hintergrund neuer mas­si­ver DDOS-Attacken auf unab­hän­gige Medien – die Seiten von „Echo Moskau“, „Kommersant“ „tvrain“. Zum ers­ten Mal seit den Massenaktionen im Zentrum Moskaus hatte man ent­schie­den, gleich neun Metrostationen zu schlie­ßen, die in Kremlnähe lie­gen – Ochotnyj Rjad, Kitaj-Gorod, Lubjanka, Borovitzkaja und andere. Gleichzeitig erklärte das Moskauer Wehramt öffent­lich, dass es vor­habe, fest­ge­nom­me­nen Männern Einberufungsbefehle vor­zu­le­gen, egal ob sie im wehr­fä­hi­gen Alter seien oder nicht.

Die Menschen, die zum Sammelpunkt auf den Kaluzhskaja-Platz kamen, muss­ten fast eine halbe Stunde vor den Metalldetektoren anste­hen. „Alle dach­ten, dass kei­ner kommt, des­we­gen sind alle gekom­men“, scherzte der am Kopf der Warteschlange ste­hende Duma-Abgeordnete von „Gerechtes Russland“, Dmitrij Gudkov. Tatsächlich war die Stimmung der Opposition vor der Amtseinführung nicht wirk­lich kämp­fe­risch und alle scherz­ten: Warum nennt man eine Aktion mit 5000 ange­kün­dig­ten Teilnehmern „Marsch der Millionen“.

Tatsächlich waren es nach Einschätzung des Korrespondenten von gazeta.ru 60.000 Teilnehmer (die Organisatoren, dar­un­ter der Abgeordnete Ilja Ponomarev sprach nach der Kundgebung von 100.000 Teilnehmern. Die staat­li­che Abteilung des Innenministeriums schätzte die Teilnehmer auf 8000 und ver­wies auf die Zahl derer, die durch die Metalldetektoren gin­gen).
In der Menge gab es unzäh­lige Fahnen, von ech­ten Bewegungen wie „Solidarität“ und „Linke Front“ bis zu uner­war­te­ten – Yukos und Facebook. In eige­nen Blocks gin­gen Nationalisten und ihre ideo­lo­gi­schen Gegner, Unterstützer der LGBT (lesbisch-schwul-bi- und trans­se­xu­ell). Einige Dutzend Leute bil­de­ten einen Block zur Unterstützung der Verhafteten von Pussy Riot.

Die Plakate der Teilnehmer ent­spra­chen weni­ger einer Demonstration als einer „Monstration“: „Es gibt einen Ausweg – Suff“ „V.V.P. Gott sieht alles“. Ein wenig wie­der­spra­chen sich ein jun­ger Mann und eine junge Frau, die neben­ein­an­der­stan­den mit den Plakaten „Freiheit für Tschekisten und Homosexuelle“ und „Tod den Okkupanten der Lubjanka (den mora­li­schen)“. Es gab lus­tige Frauen mit Katzenohren und Plakaten „Katerchen für ein Impeachment“ und „Putin strei­chelt gegen den Strich“. Zum Bolotnaja-Platz kamen die Menschen unter den tra­di­tio­nel­len Losungen „Das ist unsere Stadt“ und „Russland ohne Putin“, etwas weni­ger tra­di­tio­nell „Putin, Skier, Magadan“ und ganz neu „Tchurov, Skier, Askhaban“ (das Gefängnis aus Harry Potter).
Als die Menge zum Bolotnaja-Platz kam, gab es in der Ferne noch eine leere Bühne.

Dorthin zu gelan­gen war nicht ein­fach, weil der Durchgang offen­sicht­lich nicht für eine so große Menschenmenge aus­ge­legt war. Zusätzlich stand hier noch eine Reihe Metalldetektoren. Es ent­stand ein neuer Stau aus Menschen.

Die Demonstranten stan­den auch auf der gegen­über­lie­gen­den Seite des Kanals. Aber auf den Bolotnaja-Platz ging nie­mand – die Menschen blie­ben vor der Kette der OMON (Sondereinheit des Innenministeriums) vor der gro­ßen Steinbrücke. Ketten gab es gleich meh­rere – Wehrpflichtige – OMON- wie­der Wehrpflichtige – wie­der OMON und dahin­ter hell­or­ange Wasserwerfer.
Die Stimmung war zu Beginn eher fröh­lich als kämp­fe­risch. Eine junge Frau in Putin-Maske diri­gierte mit einem wei­ßen Band ein klei­nes Orchester, das „Steh auf, gro­ßes Land“ [kom­po­niert zum Über­fall Hitlers auf die Sowjetunion – Anm.d.Übers.] into­nierte. „Putin – Dieb“ über­töne eine Gruppe jun­ger Menschen das Orchester. Ihnen trat ein Pensionär ent­ge­gen der sich empörte, dass man“ Medvedev ver­ges­sen“ habe. Die Aktivisten ant­wo­te­ten dar­auf „Medvedev ist noch klein“.

Die Heiterkeit brach ab, als der Führer der „Linken Front“ Sergej Udaltsov die Aktionsteilnehmer zu einer Sitzblockade auf­rief. „Wir set­zen uns alle, sonst ver­lie­ren wir“, schrie er über Megaphon. „Wir sind nicht hier, um aus­ein­an­der zu gehen“, erklärte er gegen­über gazeta.ru. Einige Dutzend setz­ten sich wirk­lich und saßen etwa 20 Minuten. Udaltsov for­derte in die­ser Zeit über Megaphon Verhandlungen mit der Polizei. Die Polizei hat ihn nicht erhört, die Menschen stan­den auf und fin­gen an zu lau­fen – unter Atemnot wegen des Pfeffersprays. „Stinkende Ziegenböcke“ zischte ein Mann die Polizei an, wobei er Mund und Nase mit einem Tuch ver­deckte. Tatsächlich behaup­tete die Polizei hin­ter­her, dass jemand aus der Menge das Spray ein­ge­setzt habe.

Udaltsov, Nemtsov und Jaschin saßen am Anfang zusam­men, danach ging der Anführer der „Linken Front“ auf die Bühne und ver­kün­dete, dass die Versammlung been­det sei, weil sich die Gegebenheiten ver­än­dert hät­ten und dass es statt­des­sen einen unbe­fris­te­ten Ausstand gäbe. Unterschiedliche Gruppen von Bürgern schlos­sen sich der Sitzblockade an. Ein Teil tat das aktiv, einige schlu­gen Trommeln. Als Antwort begann OMON die Teilnehmer her­aus­zu­drü­cken, was die Sitzenden zum Aufstehen und Bewegen nötigte.

Als ers­ter wurde Navalnyj recht grob fest­ge­nom­men. Darauf wurde Udaltsov direkt auf der Bühne wäh­rend einer Ansprache von OMON-Angehörigen in Helmen fest­ge­nom­men. Der letzte der fest­ge­nom­me­nen Anführer war Boris Nemtsov, den man dezent zum Gefangenentransporter bei „Udarnika“ brachte.

Anfangs waren die Aktionsteilnehmer offen­sicht­lich ver­lo­ren und wuss­ten nicht, was sie tun soll­ten. Von der einen Seite kam „Wir blei­ben“, von der andern „Wir lau­fen“. Aber als Gas ein­ge­setzt wurde, ver­wan­delte sich die fried­li­che Aktion in einen ech­ten Protest, OMON bekam Asphaltstücke ab, Brandsätze und Plastikflaschen.

Die Flaschen tra­fen gewöhn­lich ihr Ziel nicht, weil sie leer waren – das ganze Wasser wurde den Demonstranten noch zu Beginn des Marsches abge­nom­men, in der Hitze wollte jeder trin­ken und der Satz „Hast Du Wasser?“ wurde schon zum Scherz. Nach Beobachtungen des Korrespondenten von gazeta.ru wur­den die ers­ten Brandsätze und Flaschen von Vermummten gewor­fen.
Die OMON-Einheit wurde böse und begann die Demonstranten schub­weise zu tren­nen. Gas wurde noch einige Male ein­ge­setzt und im Rauch, in der unter­ge­hen­den Sonne sah man Schlagstöcke, die auf die Köpfe der Oppositionellen nie­der­gin­gen. Es wurde grau­sam zuge­schla­gen, bis aufs Blut, mit dem Gesicht auf den Asphalt, gezo­gen an den Haaren und der Kleidung – unab­hän­gig von Geschlecht und Alter. Ein Mann mitt­le­ren Alters wurde gleich von meh­re­ren Kämpfern mit den Beinen getre­ten und die Menge schrie „Mörder!“.

In die­sem Moment ent­schied die Opposition sich zum Gegenschlag, Die Helme der Omon-Angehörigen flo­gen in den Kanal, die schuss­si­che­ren Westen hin­ter­her. Ein Polizist mit blu­ti­gem Gesicht wurde von einem Kollegen hin­ter die Absperrungen geführt. Es wur­den Journalisten von NTV ver­letzt, der Sender, auf dem der skan­dal­träch­tige Film „Anatomie des Protestes“ lief. Hier und dort gab es neue Zusammenstöße – die Aktionisten konn­ten der OMON einige Genossen ent­rei­ßen, dar­un­ter Anastasija Rybatchenko von „Solidarnost‘“. Kurz davor war sie mit einem Megaphon unter­wegs gewe­sen und hatte ver­sucht, aus den noch nicht Festgenommenen eine Menschenkette zu bil­den. In die­ser Kette stan­den Demokraten, Nationalbolschewiken, Nationalisten und ein jun­ger Mann in einer sil­ber­nen Pussy-Riot-Maske und der Dumaabgeordnete Ikja Ponomarev. Hinter ihren Rücken wur­den zwei Zelte auf­ge­baut. Danach musste man sie natür­lich abbauen.

Die, die in der Kette stan­den, waren die letz­ten, die bereit waren, der OMON Widerstand zu leis­ten. Zur Absicherung stürz­ten sie einige gelbe Toilettenhäuschen um und über die Straße floss ein Strom Urin. „Der Geruch der Revolution“ scherzte jemand. Die Kette der Aktivisten ver­suchte die Kette der Kämpfer zu stür­men, aber erfolg­los – sie wur­den unter hys­te­ri­schen Frauenschreien fest­ge­nom­men. Einige wur­den nicht nur zusam­men­ge­schla­gen, son­dern auch noch in den gel­ben Pfützen gewälzt.

Danach war der Bolotnaja-Platz fast gesäu­bert. Die Aktivisten beweg­ten sich zum Ufer, wo sie begeis­tert zuschau­ten, wie unter Leitung eines Polizeichefs mit des­sen Boot die OMON-Helme aus dem Wasser gefischt wur­den. Auf der ande­ren Seite fuh­ren die Kämpfer fort, die zurück­zu­drän­gen, die auf der Seite der Tretjakov-Galerie stan­den „Die Veranstaltung ist been­det“ teilte ein Polizeimitarbeiter über Megaphon mit, wie schon in der Stunde davor.

Tatsächlich gab es noch einige Tausend Demonstranten auf den Straßen Bol’schaja Ordynka und Poljanka. Hier setz­ten sich die bru­ta­len Festnahmen bis in den spä­ten Abend fort. Navalnij und Jashin wur­den in das Polizeirevier „Jakimanka“ gebracht. Derzeit dro­hen fünf­zehn Tage Arrest für „Widerstand gegen Polizeibeamte“, aber das Ermittlungskomitee hat erklärt, dass ein Strafverfahren wegen Aufrufes zu Massenunruhen eröff­net werde. Den Beschuldigten dro­hen aktu­ell bis zu zwei Jahren Gefängnis, aber bis­lang gibt es keine Beteiligte. Insgesamt wur­den nach Angaben des Innenministeriums bis zu 450 Personen fest­ge­nom­men. Es gibt Verletzte sowohl unter den Demonstranten als auch unter den Polizisten. Es kamen 17 Demonstrationsteilnehmer und drei Polizisten ins Krankenhaus, wei­tere 17 Mitarbeiter der Sicherheitsorgane haben in ein oder ande­rer Hinsicht gelit­ten, sagt die Leitung des Innenministeriums.

Die Aktivisten, die noch in Freiheit sind, ver­spre­chen am Tag der Amtseinführung auf die Straße zu gehen; die­ses Mal zu einer nicht geneh­mig­ten Demonstration.