Wider das absolute Kunstwerk, oder: 1001 Ausflüchte

MatrjoschkaDie Erzählungen aus 1001 Nacht kannte ich bisher – wie die meisten anderen Leute wohl auch – nur aus den vereinfachten und entschärften Versionen meiner Kindheit. Ali Baba hatte ich mal im Kindertheater gesehen, allerdings kann ich mich hauptsächlich an einen Dialog erinnern, der mir schon als kleiner Knirps die praktikabilitätstechnischen Zwänge des Mediums Theater anschaulich vor Augen geführt hat: “Oh! Da kommen vierzig Räuber!” – “Wie? Ich sehe nur vier!?” – “Okay: aber jeder ist so stark wie zehn!!”

Inzwischen zum Manne gereift, wollte ich nun doch mal etwas tiefere Kenntnisse des Werks erlangen und habe mir vor kurzem eine ungekürzte Übersetzung vorgenommen. Und ich muss ganz ehrlich sagen: mir geht es damit wie dem Prinzen Run-ad-Din mit seiner verzauberten Schwester.

Hm… wie ging diese Geschichte nochmal?

Genau! Damit wären wir schon mittendrin. Denn das großartige an den Erzählungen aus 1001 Nacht ist, dass das Grundprinzip – Erzählen, um Zeit zu gewinnen – nicht nur die Rahmenhandlung mit Sheherazade bestimmt, sondern auch die komplex verschachtelten Binnenhandlungen selbst.

Schauen wir uns dazu einfach mal die dritte Nacht an. Da erzählt Sheherazade die Geschichte vom Fischer und dem Dämon:

Der Fischer lässt unabsichtlich einen Dämon aus der Flasche, welcher ihn töten will, woraufhin ihn der Fischer mit einer List wieder in die Flasche sperrt. Der Dämon ist stinksauer und fordert den Fischer auf, ihn sofort wieder freizulassen, er werde ihm auch nichts Böses tun. Der Fischer aber antwortet: “Du lügst, Verfluchter, ich und du, wir stehen wie der Wesir des Königs Junan und der weise Duban! – Da wird der Dämon neugierig, vergisst seine Bitte um Freiheit und fragt, was das für eine Geschichte sei. Und der Fischer beginnt zu erzählen:

Der weise Duban hat den König von einer Krankheit geheilt, doch des Königs Wesir intrigiert gegen ihn und fordert vom König seinen Tod. Da sagt der König: “O Wesir, dich hat der Neid auf diesen Weisen gepackt, und du möchtest, dass er getötet werde; aber ich würde es nachher bereuen, genau wie König Sindibad es bereute, dass er den Falken getötet hatte. – Da wird der Wesir neugierig, vergisst seine Intrige und fragt, was das für eine Geschichte sei. Und der König beginnt zu erzählen…

So geht es weiter, bis wir irgendwann wieder in der Matrjoschka zurück zum Fischer und dem eingesperrten Dämon gekommen sind, welcher nun seinerseits davon erzählen will, “wie Umama der Atika tat”. Allerdings stellt der Dämon die Bedingung, nicht “im Gefängnis” erzählen zu müssen, was der Fischer messerscharf als billigen Trick durchschaut und daraufhin auf die Geschichte verzichtet. So erfahren wir nicht, was Umama der Atika antat, und werden es niemals erfahren – weil sich der Fischer nicht auf den Erzähler eingelassen hat.

Die Bedingungen des Stattfindens der Erzählungen aus 1001 Nacht erweisen sich somit exakt als die Bedingungen des Stattfindens von Kunst überhaupt. Kunst existiert nicht absolut, nicht losgelöst von den Interessen und Sehnsüchten der Zuhörer, sondern wird durch sie erst real. In dem Moment, wo der Hörer den Alltag ein Stück weit zurücklässt, wo er die Kämpfe und Intrigen des täglichen Lebens zu vergessen beginnt, da fängt er an, sich auf die Kunst einzulassen. Die Kunst schiebt sich mitten in unser Leben und verändert es, transformiert es, transzendiert es. So manchen Figuren aus 1001 Nacht hat das Geschichtenerzählen das Leben gerettet – andere Figuren hat gerade das Zuhören vor Fehlentscheidungen bewahrt, die wohl zu ihrem baldigen Ende geführt hätten.

Diese Kongruenz von Form und Inhalt – eine Geschichte von Geschichten übers Geschichtenerzählen, die gleichzeitig ein Sinnbild unserer eigenen Lebensgeschichte ist – ist großartig. Als Leser sind wir im Grunde die äußerste Matrjoschka-Puppe, wir sind der Kalif, Wesir oder Dämon, dem die Rahmengeschichte von Sheherazade erzählt wird. Diese Verwurzelung der Erzählung außerhalb ihrer selbst wirkt ausgesprochen modern – avancierter als manches, was heutzutage an neuer Literatur auf den Markt kommt…

Wirklich – vor dem Hintergrund dessen, wie experimentell da schon vor Jahrhunderten erzählt wurde, fragt man sich manchmal, was das für eine zeitgenössische Literatur ist, die ihre Werke mit Sätzen wie diesem einleitet:

DIE KINDHEIT.
Geboren wurde ich 1908 auf dem Gut meines Vaters Dmitri Iwanowitsch Snegirjow.

Diese Erzählung ist absolut. Der Sohn des Dmitri Iwanowitsch wird 1908 geboren, ob ich das Buch nun lese oder nicht. Es hängt nicht von mir ab. Es hat nichts mit mir zu tun. Ich gehöre nicht zu dieser Geschichte. Und darum habe ich das Buch, als ich es vor Jahren in die Finger bekam, gleich nach dem ersten Satz wieder in die Bibliothek zurückgebracht.

Wladimir Sorokin

Wladimir Sorokin

Der Verfasser dieses höchstkonventionellen Eröffnungssatzes ist übrigens kein Neokons à la Daniel Kehlmann oder Uwe Tellkamp, sondern niemand geringeres als Wladimir Sorokin, der russische Ex-Avantgardist, der 20 Jahre vor diesem (“BRO” betitelten) biederen Alterswerk seinen Klassiker “Die Schlange” geschrieben hat, dessen Eröffnung ganz anders klingt:

– Genosse, wer ist der letzte?
– Ich wahrscheinlich, aber nach mir kommt noch eine Frau im blauen Mantel.

Hier gibt es dieselbe Kongruenz von Form und Inhalt wie in 1001 Nacht. Dem Inhalt des unendlichen Schlangestehens vor den leeren Geschäften der kollabierenden Sowjetunion entspricht die Form der endlosen Aufzählung – das ganze Buch ist eine einzige Abfolge von in der Schlange gewechselten Sätzen, darunter seitenlange Namenslisten, Belanglosigkeiten, Liebesgeschichten, Floskeln, Gesprächspausen…

Indem ich das Buch lese, stehe ich sozusagen selbst in der Schlange, arbeite mich von Position zu Position vor, wie das Mütterchen in Moskau, das auf die gerade gelieferten Stoffballen wartet, sich Meter um Meter vorarbeitet. Ebenso wird mir in 1001 Nacht selbst die Zeit vertrieben, indem ich die Geschichten davon lese, wie andere Leute wieder anderen die Zeit vertreiben…

Diese Rekursion macht Kunst aufregend und für mich selbst relevant. Mit diesen ganzen konventionellen Machwerken hingegen, “BRO” oder Kehlmann oder Tellkamp – soll ich verschweigen, dass es mir mit ihnen ebenso geht wie dem Wesir Hanan mit den beiden Bettlern? ———


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