Barbara Engelhardt ist als freie Kuratorin für die Auswahl der Stücke des „Festival Premières“ in Straßburg verantwortlich. Sie erarbeitet das Programm mit dem Le-Maillon sowie dem TNS, dem Théâtre national Strasbourg, und legte in diesem Jahr bereits die 6. Saison vor.
Die Theaterkuratorin Barbara Engelhardt (c) Alexandre Schlub
Frau Engelhardt, sie waren bis 2001 Chefredakteurin der Zeitschrift „Theater der Zeit“, wie kam es zu Ihrer Verbindung mit Straßburg?
Ende 2001 legte ich eine Babypause ein und ging von Berlin nach Paris – da bin ich dann hängen geblieben. Als mein Mann an die UNI nach Straßburg wechselte, begann hier rasch meine Zusammenarbeit mit den Theatern. Ich kannte Bernard Fleury (Direktor des Le-Maillon, eines Szenetheaters für zeitgenössisches, europäisches Theater) der die Präsenz des deutschsprachigen Theaters in Straßburg verstärken wollte und ich hatte die Idee, die europäischen Theaterschulen, in denen Regie gelehrt wird, miteinander zu vernetzen. Und eine solche Regieausbildung gibt es auch in der Schule des Straßburger Nationaltheaters. So entstand das gemeinsame Format eines zeitgenössischen Theaterfestivals. Um den jungen Leuten, egal ob Regisseure oder Schauspieler, die Möglichkeit zu geben, sich zu vergleichen und zu sehen, wie in anderen Ländern gearbeitet wird, wollten wir Produktionen zeigen, die als Abschlussarbeiten an den verschiedenen Hochschulen erarbeitet wurden. Es stellte sich aber rasch heraus, dass dies eine zu enge Beschränkung war und so gingen wir dazu über, uns auch jene Produktionen anzusehen, die außerhalb der Schulen zustande kamen. Wir blieben allerdings dabei, nur europäischen Nachwuchsregisseuren, die ganz am Anfang ihrer künstlerischen Laufbahn stehen, ein Podium zu bieten.
Gibt es überhaupt noch regionale Unterschiede im jungen, zeitgenössischen Theater?
Zunächst kann man natürlich innerhalb Europas allgemeinen Tendenzen ausmachen: im Umgang mit Texten, Musik, cineastischen Einflüssen etc. Aber dennoch gibt es nationale Unterschiede, die auch aus der Ausbildung herrühren und aus dem Verhältnis zu den jeweiligen Theatertraditionen, in das junge Künstler sich setzen müssen. In Polen und Russland zum Beispiel herrscht ein Meisterprinzip vor, das zugleich eine ästhetische Ausrichtung an einer starken Künstlerpersönlichkeit bedeutet. In Deutschland wiederum könnte man häufiger von einem „Vatermordprinzip“ sprechen, das sich im schlechteren Falle in einer Art Originalitätswahn ausdrückt, idealerweise aber von einem sehr selbstbewussten Umgang mit Stoffen und Inhalten zeugt. In Frankreich wiederum kommen viele Regisseure zunächst als Schauspieler zum Theater, und der angelsächsische Raum ist durch seine spezifische Situation der Strukturen und Subventionen extrem schwierig für den Nachwuchs. Zwischen all diesen Polen herrscht Spannung und bewegt sich viel. Auch ist es so, dass man innerhalb eines Ensemblebetriebs andere Arbeitsbedingungen vorfindet als jemand, der mit Freischaffenden arbeitet oder eine Compagnie gründet. Und diese Voraussetzungen schlagen sich in den einzelnen Arbeiten nieder, formal und inhaltlich. Am Beispiel der diesjährigen Peer-Gynt-Inszenierung, die ja vom Reinhardt-Seminar in Wien kommt, kann man sehen, dass es für den Regisseur eine Herausforderung darstellte, die Rollen, die mit älteren Schauspielern besetzt werden müssten, nur mit jungen Schauspielern aus dem Seminar zu füllen. Das funktioniert dann nur, wenn das Regiekonzept sich diesen Bedingungen wirklich stellt und dabei schlüssig ist.
Sie haben, auch durch die Zusammenarbeit mit dem Le-Maillon und dem TNS sicherlich ein großes Netzwerk, auf das sie zugreifen können.
Ja, aber vor allem verfüge ich selbst über ein Netzwerk aus meiner journalistischen Zeit und den Jahren als Festivalkuratorin, übrigens nicht nur für Premières. Es ist auch so, dass ich mir direkt aus den verschiedenen Theaterschulen Informationen über interessante Projekte einhole, inzwischen schicken manche Compagnien ihre Projekte selbst ein. Ich höre mich aber auch in den jeweiligen off-Szenen oder in bestimmten Theatern um, die junge Talente fördern. Trotzdem kommt natürlich immer wieder das Zufallsprinzip bei der Recherche zum Tragen. Wichtig ist vor allem, dass man spontan reagiert: Klingt ein Dossier interessant, sprechen junge Regisseure überzeugend von ihrer Theaterarbeit, werden Fragen aufgeworfen, die mir heute auch gesellschaftlich relevant erscheinen, muss man in den nächsten Zug steigen, um sich von der Arbeit auf der Bühne einen direkten Eindruck zu machen.
Wie planen Sie eine Festivalausgabe inhaltlich?
Wir setzen keine thematischen Schwerpunkte, die kann man sich bei einer solchen Ausrichtung auch nicht vorab konstruieren. Mir ist eine ästhetische und inhaltliche Vielfalt wichtig, die Produktionen sollten sich nicht ähneln. Ich möchte kein einheitliches Generationenbild wiedergeben, das ich so auch nicht sehe. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Inszenierungen formal „perfekt“ sind, da man immer bedenken muss, dass junge Regisseurinnen und Regisseure in ihrer Umsetzung ja auch Grenzen vorfinden. Hauptsächlich finanzielle, die dann zum Beispiel Auswirkungen auf die Besetzung oder die Möglichkeiten für ein Bühnenbild haben. Aber das kann eine gute szenische Fantasie, eine konsequente Ästhetik wettmachen. Und ihre Arbeiten müssen Fragen aufwerfen oder etwas verhandeln, das das Publikum heute und auch hier in Straßburg tatsächlich betrifft.
Gibt es bestimmte Grundthematiken, die sich länderübergreifend ausmachen können?
Natürlich gibt es immer wieder Tendenzen, sogar Moden im Theater. Daran ist nicht zuletzt auch die internationale Festivalkultur schuld. Wenn es also bei Premières inhaltliche Grundthematiken gibt, dann eher als einen roten Faden, der sich einem Zuschauer, der sich auf diesen Festivalmarathon Premières einlässt, im Nachhinein erweist. Im letzten Jahr war ein Schwerpunkt erkennbar, in dem eigene Biographien vor dem jeweiligen nationalen Hintergrund aufgearbeitet wurden. In diesem Jahr ist es eher das Verhältnis der jüngeren Generation zur älteren. Also auch die Frage, wie distanziere ich mich, anders als 1968 heute meist ohne Kampfgeste. Wie schaffe ich mir eine eigene Identität. Die Auseinandersetzungen hierzu sind jetzt aber persönlicher. Ich sehe heute keine Fürsprecher mehr für die eigene, junge Generation. Der Ausgangspunkt für ein politisches Engagement ist heute ein anderer als früher. Es sind keine Gruppen, KIassen oder Schichten mehr, denen man sich zugehörig fühlt und für die man eintritt. Vielmehr kommt die Identitätsfrage aus dem eigenen Erleben. Beim diesjährigen Festival zeigen wir ein Stück von drei Türkinnen – zu Deutsch „Das hässliche Menschlein“. Sie nahmen ihre persönliche Erfahrung des Ausgegrenztseins zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Sie wissen um das allgemeine gesellschaftliche Phänomen, hinterfragen aber, wie verhält man sich persönlich dazu. Wie stellt man sich selbst gegen den Druck einer Mehrheit. Auch die holländische Produktion hat als Ausgangspunkt eine Familienbiographie. Wir zeigen eine Etappe dieses als Sechsteiler konzipierten Projekts, in dem der Autor und Schauspieler sich mit seinem Vater auseinandersetzt und mit ihm persönlich auch auf der Bühne steht. Es geht um jüdische Identität, um die eigene Erfahrung mit Übergriffen, aber auch um grundsätzliche Mechanismen von Antisemitismus, und wie unterschiedlich die beiden Darsteller damit umgehen. Die Frage nach einer jüdischen Identität wird dadurch nicht religiös, sondern sozial und politisch beleuchtet. Man könnte sagen, dass es einen Trend zur Intimität gibt, insofern Theatermacher Autobiographisches zum Ausgangspunkt machen. Aber es ist eine Intimität, die nach außen schaut und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischt.
Welche Wirkung kann nach Ihrer Meinung nach das Theater heute auf das Publikum ausüben?
Ich verstehe Theater nicht als Botschafter für Thesen und klare Aussagen. Es ist ein sehr sinnliches Medium, das Fragen anders umreißt, als sie zum Beispiel im Kino oder in der Philosophie verhandelt werden. Aber es sollte idealerweise ein Ort sein, der die Möglichkeit einer Konfrontation mit Ideen und Sichtweisen bietet, die die Menschen für die Welt öffnen können. Es transportiert das Publikum durchaus auf unterhaltsame Art und Weise in eine andere Welt, sprengt Alltag und Wahrnehmungsgmuster, ohne Resultate oder Antworten zu fixieren. Vielmehr stellt es Fragen. Das Spiel mit Fiktionen und Illusionen im Theaters haben für mich keinen benebelnden Unterhaltungswert, der über Realitäten nur hinwegtäuschen würde, sondern es zeigt mögliche Gegenwelten zu Realitäten oder Ansichten auf. Theater arbeitet mit Sprache, Literatur, mit Bildern und Musik in einer unglaublichen Zeichenvielfalt und einer großen Direktheit.
Welche Motivation ist für Sie persönlich bei dieser Arbeit die stärkste?
Ich sehe, dass ich den Künstlern mit der Möglichkeit, am Festival teilzunehmen, ein Erlebnis an den Anfang ihrer Laufbahn stellen kann, eine Art Schwung, mit der sie weiterarbeiten können. Für mich ist es wichtig, dass sich für die Künstler daraus etwas ergibt – entweder konkret, weil die Produktionen hier gesehen und anderswo eingeladen werden. Oder weil die Regisseure und Schauspieler hier eine Erfahrung machen, die sie in ihren künstlerischen Entscheidungen prägt, bestätigt oder reflektieren lässt. Dass wir hier auf einen echten Austausch setzen und nicht auf Konkurrenz, ist dabei wichtig. Und natürlich freut mich, dass viele danach mit mir in Verbindung bleiben, mit mir über ihre neuen Projekte sprechen – und das völlig zweckfrei, denn von mir können sie kein zweites Mal mehr eingeladen werden. Auch die Steigerung der Außenwirkung des Festivals ist etwas, das beflügelt, vor allem die Verankerung in der Stadt selbst, das heißt beim lokalen Publikum. Obwohl inzwischen viele internationale und französische Fachkollegen anreisen, die sich die Stücke möglichst geballt ansehen, um Produktionen „einzukaufen“, geht es vorrangig nicht um eine Klientel: Das Festival wird von den beiden großen Theatern in Straßburg gemeinsam gemacht, das heißt für ein Publikum vor Ort, eines, das sich für junges, oft überraschendes Theater sehr offen zeigt.
Haben Sie Wünsche für die Zukunft des „Festival Premières“ ?
Ja, auf alle Fälle – es soll weitergehen. Ich finde, dass gerade auch die Diskussionen rund um die Aufführungen und Rahmenveranstaltungen, wie sie dieses Jahr zusätzlich angeboten wurden, wichtig sind. Dafür braucht es Geld. Jetzt ist es ja so, dass Le-Maillon und das TNS dieses Festival zu einem Großteil aus ihren Spielzeit-Budgets bestreiten. Deshalb ist jeder zusätzliche Partner extrem wichtig. Es ist eine Besonderheit, dass zwei an und für sich in Konkurrenz stehende Theater sich hier in Einstimmigkeit zusammengetan haben für ein europäisches Projekt. Das ist in einer Stadt wie Straßburg von großem Wert. Jede Zusatzaufwendung, die von dieser Seite und anderen potentiellen Partnern kommt, ist sehr willkommen.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview fand am 29. Mai 2010 in Straßburg statt.