Whitby – Die weiße Stadt

Wenn ich schon ein paar Tage Urlaub vom Cleveland Way mache und meine erschöpften Glieder am Meer ausspanne, kann ich auch gleich mal ein paar Worte über den Ort verlieren, der mich gerade so fürsorglich in seiner Mitte beherbergt: Die Stadt Whitby liegt in der Grafschaft North Yorkshire, an der Ostküste, unmittelbar da, wo der Fluss Esk in die Nordsee mündet. Der Name stammt aus dem Old Norse, einem alten skandinavischen Dialekt, und bedeutet so viel wie „weiße Stadt“. Und tatsächlich sind die meisten Häuschen hier in hellen Pastellfarben gehalten und von roten Dächern bekrönt. Auf dem östlichen Kliff überragt Whitby Abbey, eine mächtige Klosterruine, die Stadt.

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Zu verdanken ist diese exponierte Lage der ersten Äbtissin Hilda (614-680),  einer entfernten Verwandten des Königs von Northumbrien, dem damals mächtigsten anglo-sächsischen Königreich, die das Kloster 657 n. Chr. gründete. Hilda selbst wurde später heilig gesprochen. Unter ihrer Leitung entwickelte sich das Doppelkloster, in dem damals Männer und Frauen Tür an Tür lebten, zu einem der wichtigsten religiösen und geistigen Zentren Englands. Unter dem Dach der Abtei soll im 7. Jahrhundert auch der erste namentlich bekannte Poet der englischen Literaturgeschichte gelebt haben: Caedmon, ein einfacher Hirte, der im Traum von der lyrischen Muse geküsst worden ist, so besagt es zumindest die Legende. Im 9. Jahrhundert wurde die Abtei im Zuge mehrerer Wikingereinfälle zerstört und erst zweihundert Jahre später, nach der Eroberung Englands durch die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer (1066) als Benediktinerkloster im gotischen Stil wieder aufgebaut. Doch die Geschichte des Klosters nahm kein gutes Ende. 1539 ließ Heinrich VIII. die englischen Klöster auflösen und ihre Besitztümer konfiszieren (Dissolution of the Monasteries). Whitby Abbey wurde im Zuge dessen fast vollständig zerstört. Bis heute thronen die mittelalterlichen Ruinen als Wahrzeichen über der Stadt.

Dabei versprühen sie besonders bei Anbruch der Dunkelheit eine fast schon schaurige Aura, die wohl Bram Stoker damals auch zu seinem „Dracula“ inspiriert haben mag, der hier mit seinem Schiff gelandet ist.  Dieser mystische Ort wirkt auf viele Arten anziehend, nicht nur auf Touristen und Künstler, sondern vor allem auch auf die Gothic Szene, die in Whitby alle zwei Jahre zu einem großen Musikfestival, dem Goth Weekend zusammenfindet. Auch wir lassen uns diesen Ort natürlich nicht entgehen und steigen eine nach der anderen, brav die 199 Stufen bis zur Abtei hinauf.

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Doch auch die Geschichte der Siedlung am Fuße der Abtei ist nicht weniger interessant und geht noch viel weiter zurück. Es gibt archäologische Hinweise darauf, dass Whitby, das im 7. Jahrhundert noch Streonshalh hieß, bereits in der Bronzezeit besiedelt war. Im 3. Jahrhundert befand sich hier womöglich eine wichtige römische Signalanlage. Durch die Jahrhunderte lebten die Bewohner Whitbys größtenteils von der Fischerei. Industrielle Fortschritte und die Verlagerung auf landeseigene Ressourcen wie Eichenholz führten im 18. Jahrhundert dazu, dass Whitby neben London und Newcastle zum drittgrößten Schiffsbauer Englands aufstieg. Und so verwundert es nicht, dass alle vier Expeditionsschiffe, auf denen James Cook reiste, die Endeavour, die Resolution, die Adventure und die Discovery, in Whitby gebaut wurden. Kurz bevor ich vom Cleveland Way aus in den Hafen Whitbys herabsteige, erblicke ich die Statue des berühmten Kapitäns, der sehnsüchtig aufs Meer zu blicken scheint. Doch nicht jeder ist dem Seefahrer in würdevoller Bewunderung zugetan. Eine freche Seemöwe hat dem Ärmsten gerade eine ziemlich dismanierliche Markierung verpasst.

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Apropos: Während unseres Kurzaufenthalts in Doris Cottage fand sich von Zeit zu Zeit eine recht anhängliche Silbermöwe ein, die wir kurzerhand Freddie tauften. Schnell stellt sich raus, Freddie steht vor allem auf eins: Salzige Cashewnüsse und trockenes Toastbrot. Mit einem fordernden Gackern schielt die sympathische Möwe alle paar Stündchen durchs Fenster und wartet auf ihre Snacks. Innerhalb kürzester Zeit baut sich zwischen uns und dem keck blinzelnden Federvieh eine warmherzige Urlaubsbekanntschaft auf. Doch die wird bald überschattet von einem traurigen Unglücksfall. Eine andere Silbermöwe sitzt wenig später mit gebrochenem Flügel, in eine Ecke gedrängt, mitten vor unserem Hauseingang. Zunächst sind wir ratlos, eine Möwe kann ziemlich aggressiv reagieren und wir wagen es nicht, sie anzufassen. Doch als Freddie das arme Ding fast zerhackt, fühle ich mich irgendwie verantwortlich und rufe die Tierrettung an. Ein ziemlich ungehaltener Callcenter-Mitarbeiter nuschelt mir eine Litanei an Fragen entgegen, wer ich denn sei, wo ich denn wohne, was ich da mache, und, und, und. Doch die Verbindung ist so schlecht, dass ich mich nicht gut verständigen kann und meinen Engländer übernehmen lasse. Der regelt die Geschichte wortgewandt. „Sie können nicht sagen, ob sie heute noch kommen oder erst morgen, aber wir sollen Bescheid geben, wenn die Möwe sich wegbewegt.“ Ich bin frustriert und enttäuscht, hatte gehofft, dass sofort ein Einsatzteam anrückt. Ich hatte schon vermutet, dass Seemöwen vielleicht nicht gerade Priorität auf der Artenliste genießen, aber das arme Geschöpf da draußen wird die Nacht vermutlich so nicht überleben.

Doch es hat Glück. In der Zwischenzeit ist ein kleines Mädchen auf den verletzten Vogel aufmerksam geworden, das seinen Vater dazu bringt, die Möwe in einen Pappkarton zu quetschen. Die wehrt sich mit allen Mitteln, beißt dem engagierten Familienvater kräftig in den Arm. Doch der gibt nicht auf. Wir helfen ihm, den hüpfenden Karton sicher mit Klebeband zu verschließen und ich gebe ihm die Nummer von der Rettungsstation. Am nächsten Morgen treffe ich die Familie wieder. Das kleine Mädchen hat inzwischen alles organisiert, stolz trägt sie den Karton mit der Möwe durch die Straßen von Whitby zur Wildvogelstation. Ich bin erleichtert, dass die Möwe in Sicherheit ist, und freue mich, dass zudem noch ein hilfsbereites Kind so viel Freude an dieser Rettungsaktion hat.

Doch zurück zur Geschichte Whitbys: Die steigenden Einnahmen aus Importzöllen während des 18. Jahrhunderts kamen dem Ausbau des Hafens zugute und beförderten wiederum dessen Wirtschaftskraft. Ein weiterer wichtiger Handelszweig kam hinzu: der Walfang. Und der erwies sich als lukratives Geschäft, denn der aus dem Fettgewebe gewonnene Tran kam als Öl in Lampen zum Einsatz, die Knochen hielten für Reifröcke und Korsetts her. Mit der Einführung von Gaslaternen ging die Ära des Walfangs Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings wieder zu Ende. Noch heute erinnert der gigantische Bogen aus Walknochen, der auf dem Westkliff den Hafen überragt, an die Zeit, als zahlreiche Männer auf hoher See ihr Leben riskierten.

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Heute sind die Gassen der Stadt von Touristen förmlich überlaufen, die busweise herankutschiert werden und meist nichts Besseres zu tun haben, als den erstbesten Fish- and-Chips-Shop für Stunden mit Massenbestellungen zu belagern. Zwischen neun und siebzehn Uhr muss man sich schon ganz schön durchboxen, um in den zahlreichen Souvenirshops, Delikatessenläden und Cafés verweilen zu können oder überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen zu können.

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Da hilft nur eine Flucht ans Meer, beziehungsweise auf einen der mit Leuchttürmen versehenen Piers, denn der Strand wird erst in den Abendstunden so richtig interessant, wenn bei Ebbe der felsige Abschnitt begehbar ist, in dem zahlreiche Edelstein- und Fossilienfunde locken. Das Gold der Küste ist hier übrigens nicht der Bernstein, sondern der Jett (auch Gagat oder Pechkohle genannt), ein fossiles Holz, das in einer tiefschwarzen Färbung vorkommt und sehr leicht ist. Um das Jett von Kohle zu unterscheiden, gibt es einen einfachen Trick: Reibt man es auf einem hellen Stein, hinterlässt Jett einen braunen Streifen, Kohle hingegen einen schwarzen. Aufgrund seiner guten Schnitzeigenschaften und seines Glanzes wird Jett schon seit der Bronzezeit als Schmuckstein verwendet. Es erlebte jedoch einen regelrechten Boom als 1861 Queen Victorias Ehemann Prinz Albert verstarb und die Königin tonnenweise Jett als höfischen Trauerschmuck auftrug. Wir hingegen suchen uns am felsigen Ostufer Whitbys die Füße wund. Kein einziger Edelstein landet in meinen Taschen. Dafür finde ich meinen ersten, zumindest halb erhaltenen Ammoniten.

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Nach siebzehn Uhr ist Whitby wie ausgestorben und erst dann offenbart es sein wahres Antlitz und lässt uns in all die verborgenen Winkel schauen, die im täglichen Menschengemenge unsichtbar bleiben. Ich mag das Whitby nach Ladenschluss weitaus lieber, denn das sinnlose, pausenlose Hindurchgerausche pommesverzehrender Schulklassen und schnäppchenjagender Rentner passt eigentlich gar nicht hierher. Whitby steckt voller wunderbarer Geschichten, die, wie so häufig, in kleinen Details verborgen sind. Diese aber verlangen nach der Aufmerksamkeit des Einzelnen, der innehalten und mit Muße betrachten kann und scheuen sich vor der Masse, die achtlos daran vorübergeht.



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