Wenn ein Regisseur sich eines Klassikers der Dramenliteratur annimmt und dabei den Text fast unangetastet lässt, dann kann das auf zwei sehr verschiedene Dinge hindeuten. Entweder hat er einen perfekten Zugang zum geschriebenen Wortlaut mit all seinen Details gefunden, die ihm so richtig und angemessen erscheinen, dass sie sich mit seinen Visionen organisch verbinden. Oder er kann mit der ganzen Sache so wenig anfangen, dass auch Texteingriffe im Sinne eines Regiekonzeptes daran nichts ändern könnten – dann lässt er aus reiner Arbeitsscheu den Wortlaut stehen und entzieht sich so der Verantwortung. Bei Calixto Bieitos Version von Tschechows „Der Kirschgarten“ am Residenztheater liegt mit erschreckender Eindeutigkeit der zweite Fall vor.
Was fängt man an mit diesem eigenwilligen Klassiker, über dessen aktuelle Relevanz Einigkeit zu bestehen scheint, da er momentan landauf, landab gespielt wird? Man kann eine historische Studie des bankrotten russischen Adels vorstellen. Man kann versuchen, konkrete heutige Entsprechungen von ökonomischem Niedergang zu finden. Oder man versucht, das Stück aus jedem gesellschaftlichen Zusammenhang zu lösen, die Szenen von Blindheit, Untergang und Abschied in ihrer Allgemeingültigkeit zu beleuchten. Bieito wählt keinen dieser drei Wege und auch sonst keinen sinnvollen. Stattdessen erlebt man, wie die Schauspieler in heutigen Kostümen zwei Stunden lang einen ihnen hörbar fremdgebliebenen Text nachbeten: voller Witze, die heute keine mehr sind, voller politischer Anspielungen, die nicht hinreichend kontextualisiert werden, und vor allem: voller Motivationslöcher und Spannungslücken. Niemand auf der Bühne, so scheint es, hat sich das, was da geredet wird, zu Eigen gemacht. Die grandios fehlbesetzte, da viel zu oberflächlich-gleichgültige Sophie von Kessel als bankrotte Gutsbesitzerin Ljuba beispielsweise greift zu dem hilflosen Mittel, viele ihrer Sätze mit genervten „Ja“ einzuleiten – auf der vergeblichen Suche nach einem echten, glaubhaften Ton. Auch bei den anderen Figuren herrscht ein oberflächlich aggressiver, vorwurfsvoller Duktus. Das soll dem Text wohl Leben einhauchen, hat aber mit dem Inhalt des Gesagten in aller Regel nichts zu tun und wirkt dementsprechend ermüdend.
Sollte die uninspirierte Textarbeit indes nicht an der Arbeitsscheu gelegen haben, sondern an einer ehrfürchtigen Anwandlung vor dem genial revolutionären Theaterdichter Anton Tschechow, dann wäre die Inszenierung ein Musterbeispiel für missverstandene Werktreue. Schließlich besteht doch Tschechows Verdienst darin, Dialoge geschrieben zu haben, die bei einer sauberen Satz-für-Satz-Präsentation gerade nicht funktionieren, die vielmehr dem alltäglich-chaotischen Gespräch auf die Spur zu kommen versuchen und eine entsprechend lebendige Umsetzung verlangen. Bei Bieito kommt jeder Satz, jede Mikro-Szene, jeder Auftritt und Abgang so einzeln, so zerdehnt, dass man das Vorurteil der Tschechowschen Langeweile aufs Übelste bestätigt sieht. Kein Wunder, wenn man sein Stück inszeniert wie eine textlastige Racine-Tragödie. Alles bekommt eine Bedeutungsschwerfälligkeit, der es nicht standhält – weil es ihr gar nicht standhalten will.
Wegen dieser Konzentration auf das meist Unwesentliche bleiben die zahlreichen von Tschechow nur skizzenhaft charakterisierten Figuren blass: Bieito versäumt es, sie über ihre dürftigen Texte hinaus in Parallelaktionen und Randdetails genauer in den Blick zu nehmen. Die unattraktive geschäftige Warja, die hübsch herausgeputzte Anja, der modisch gekleidete Jascha mit seiner pubertären Playboy-Attitüde, der stolpernde Jepichodov, die aufgekratzte Dunjascha (erfrischend glaubwürdig: Katrin Röver), die tantige Pseudo-Artistin Charlotta – alles zufällige, rudimentäre Charaktere, die keinen Gesamtsinn ergeben wollen. Stattdessen stehen sie oft im Halbkreis, wenn jemand anders spricht, warten ab – und bleiben damit nichts als Übrige, von denen man nicht weiß, wer sie sind und was sie sollen.
Bei einem Regiestar wie Calixto Bieito überrascht diese Unbeholfenheit. Krasse Bilder, körperliche Gewalt und Sexualität ist man von seinen Arbeiten gewohnt. Außer einer allgemeinen Tendenz zum Fummeln und dem Moment, als der neue Kirschgartenbesitzer Lopachin (den Guntram Brattia mit durchgehender Blökstimme und sportlicher Bühnenpräsenz gestaltet) im Freudentaumel die ehemalige Besitzerin vergewaltigt (bzw. dies dezent und unglaublich peinlich andeutet), passt bei dieser Inszenierung wenig ins Bieito-Raster. Eigentlich ein sympathischer Etikettenschwindel auf Kosten eines skandalgeilen Publikums – wenn dafür nur andere Qualitäten zum Zuge kämen. Intendant Martin Kusej beispielsweise hat ja letztes Jahr bei der Eröffnungsproduktion mit einer historisch kostümierten, psychologisch getreuen und feinsinnigen geführten Inszenierung von „Das weite Land“ Freunde wie Feinde seiner als eher zupackend bekannten Kunst überrascht. Calixto Bieito liefert keine Alternativkompetenzen, wenn man den Exzess und die Sinnlichkeit wegnimmt, von denen seine hierzulande vor allem bekannten Operninszenierungen leben.
So bleibt die Bühne von Rebecca Ringst das einzig Sehenswerte und zugleich das einzig Aussagekräftige: Nachdem ein Vorhang mit dem Bild einer schmucken Hausfassade heruntergerissen wurde, bezeugt eine weiße ausgehöhlte Ruine, dass alles schon viel kaputter ist, als ihre bankrotten Bewohner wahrhaben wollen. Paradoxerweise beweist das Bayerische Staatsschauspiel gerade daran seine Finanzkraft, denn je näher die Versteigerung rückt, desto aufwändigere Zerstörungen werden angerichtet. Mauerstücke stürzen herunter, Menschen brechen in den Boden ein, Reste eines Schrankes fallen aus dem Himmel, Dachbalken krachen gegen die Mauern. Das macht Eindruck, und die leeren Fensteröffnungen ermöglichen starke Lichteffekte. Für die unzähligen langweiligen Momente ist das keine Entschädigung.