Eigentlich gilt als Klischee des notorischen Vielarbeiters der umtriebige Manager, der zum Ausgleich für seine 60-Stunden-Woche einen solchen Haufen Geld bekommt, dass er es niemals ausgeben kann. Selbst wenn in der Garage des standesgemäßen Anwesens schon ein fetter BMW, der Landrover für den Weg zum Golfplatz und natürlich noch irgendein italienisches Edelfabrikat stehen. Dabei braucht es nur rudimentäre Rechenkünste, um auszurechnen, dass es unter den Geringverdienern ebenfalls sehr viele Menschen geben muss, die 45, 50 oder mehr Stunden pro Woche im Einsatz sind, weil der kärgliche Stundenlohn sonst einfach nicht zum Überleben reicht.
Wie die Berliner Zeitung heute berichtet, hat auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) diese Berechnung angestellt und ist zu wenig überraschenden Ergebnissen gekommen: Einer neuen Untersuchung zufolge arbeiten fast 900.000 Geringverdiener pro Woche 50 Stunden und mehr. Vor allem Kraftfahrer, Lagerarbeiter und Beschäftigte im Gastgewerbe müssen mit sehr langen Arbeitszeiten leben. Das ist auf Dauer ungesund – nicht nur, weil die Menschen, die länger arbeiten, naturgemäß dann weniger Freizeit haben, um sich zu erholen. Ihnen fehlt auch die Zeit, um soziale Kontakte zu pflegen, was ebenfalls zulasten der Lebensqualität geht. Laut DIW gilt als Geringverdiener, wer weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns verdient. Diese Schwelle lag 2010 bei 9,26 Euro. Wer zu diesem Lohn 40 Stunden pro Woche arbeitet, kommt auf knapp 1.600 Euro brutto. Tatsächlich bekommen viele Geringverdiener aber Stundenlöhne, die noch erheblich unter dieser Schwelle liegen. Bei Vollzeitbeschäftigten liegt der Stundenlohn im Durchschnitt bei 7,18 Euro, bei Minijobbern sogar nur bei 5,95 Euro.
Aber selbst wer pro Stunden 7,50 Euro verdient, was immer wieder (bisher aber vergeblich) als Mindestlohn gefordert wird, kann damit bei einer 40-Stunden-Woche kaum leben, denn am Monatsende kommen dabei nur knapp 1.300 Euro zusammen – brutto. Nach Abzügen kann damit vielleicht ein Alleinstehender klar kommen, wer noch eine Familie zu versorgen hat, aber nicht. Es sei denn, man schrubbt noch ein, zwei Schichten extra. Kein Wunder, dass jeder Vierte Geringverdiener pro Woche 50 Stunden und mehr arbeitet.
Im Jahr 2010 mussten 22 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland für einen Niedriglohn arbeiten. Dabei übte mehr als die Hälfte der Niedriglöhner eine qualifizierte Tätigkeit aus, für die eine Lehre oder gar ein Hochschulabschluss nötig ist. Neben denn oben genannten Berufsgruppen müssen beispielsweise auch Verkäufer, Bäcker, Köche, Putzfrauen, Friseure, Pflegekräfte oder Arzthelferinnen für vergleichsweise wenig Geld arbeiten. Das gilt übrigens auch für Teilzeitkräfte – gering verdienende Teilzeitarbeiter arbeiten durchschnittlich deutlich länger als gut verdienende Arbeitnehmer in Teilzeit.
Arbeitsmediziner beklagen längst die schädlichen Auswirkungen langer Arbeitszeiten. Das deutsche Arbeitsschutzgesetz schreibt vor, das die wöchentliche Arbeitszeit im Durchschnitt nicht mehr als 48 Stunden betragen darf. Leisten Beschäftigte noch mehr Überstunden, muss der Betrieb eigentlich innerhalb eines Jahres entsprechenden Freizeitausgleich gewähren.
Soweit die Theorie – in der Praxis sieht das anders aus. Abgesehen von wenigen Ausnahmen – etwa bei Kraftfahrern – gibt es keine Kontrollen, ob die gesetzlichen Vorschriften eingehalten werden. Aber solange nur die wirtschaftlichen Kriterien zählen, werden die Menschen einfach vernutzt: Wenn der eine nicht mehr kann, steht der nächste schon bereit, sich kaputt zu schuften. Die Auswirkungen sind längst bekannt: Lange Arbeitszeiten führen zu Schlafstörungen, Herzbeschwerden, Rückenschmerzen und weiteren Abnutzungserscheinungen, je nach dem, welche Körperteile besonders belastet werden. Außerdem steigt mit sinkender Konzentration und zunehmender Erschöpfung die Unfallgefahr rapide an. Lange Arbeitszeiten fördern schädliche Verhaltensweisen wie erhöhten Alkohol- und Nikotinkonsum, falsche bzw. einseitige Ernährung und entsprechende Folgen wie Übergewicht oder Diabetes.
Dazu kommt auch noch, dass wer ohnehin viel arbeitet, keine Zeit hat, gesunden Ausgleichssport zu treiben. Das wiederum führt zu Folgeschäden, die nicht nur für die Betroffenen schmerzhaft und einschränkend sind, sondern auch die Allgemeinheit eine Menge Geld kosten. Aber selbst dieses im Grunde echt widerliche (Kosten-)Argument führt keineswegs dazu, dass die Arbeitsbedingungen für Geringverdiener angenehmer gestaltet werden. Warum auch – die Arbeitgeber müssen dafür ja nicht aufkommen. Sie machen ihr Geschäft und die Arbeiter haben den Schaden.