Wenig wissen wir über den ‚Brandstifter’ Marinus van der Lubbe, obwohl sein Namen eng verknüpft ist mit dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933. Vor allem wissen wir wenig über seine Beweggründe, sein Denken und Fühlen. Obwohl sein Namen immer in Verbindung mit diesem Feuers stehen wird, bleibt uns der junge Mann fremd. Ich versuche hier ihm ein wenig auf die Spur zu kommen.
Eine wirkliche Heimat zu finden war für Marinus van der Lubbe in diesem Leben nicht möglich, weder physisch, noch mental. Neben seinen zwei Brüdern wuchs er bei seiner Mutter auf, die 1921, als Marinus 12 Jahre alt war, verstarb. Der verwaiste Junge, der Vater hatte schon lange vorher die Familie in größter Armut verlassen, kam er in der Familie seiner älteren Halbschwester unter. In seiner Heimat- und Geburtsstadt Leiden schloss er 1927 seine Lehre als Maurer ab. Hervorstechend war seine körperlich Stärke, für die er keinerlei Training benötigte, doch war er dadurch auch häufig in Schlägereien verwickelt, andere Formen der Problemlösung lernte er scheinbar nie kennen. Nur durch seine körperliche Kraft konnte er sich insgesamt ‚stark’ fühlen, andere Mittel, wie zum Beispiel die Kommunikation waren nicht unbedingt ‚sein Ding’. Vor allen Dingen hatte er keine Geduld einen Entscheidungsprozess, auf welcher Ebene auch immer, zu durchlaufen; eine Problemlösung musste sofort her, da blieb ‚nur’ die Gewaltlösung. 1929 geriet ihm während einer Schlägerei auf einer Baustelle Calciumoxid in die Augen, wodurch seine Sehstärke stark beeinträchtigt wurde. Er war danach dauerhaft arbeitsunfähig und bezog eine Invaliditätsrente von wöchentlich fünf bis sieben Gulden. Ein Invalide mit 20 Jahren, einen Muskelprotz, den keiner brauchte, um den sich niemand scherte. Ein junger Mann mit der Energie seiner Jugend, das kein Ventil fand. Zwar war er auf minimalstem Niveau sozial abgesichert, doch Lebensziele, sollte er welche gehabt haben, waren so nicht, oder kaum erreichbar. Von tieferer sozialer Bindung ist in Hinsicht auf Marinus van der Lubbe nichts bekannt, doch kann man von einer losen Verbindung zu seinem Bruder Jan ausgehen. In den folgenden Jahren ging er hin und wieder Aushilfstätigkeiten nach, unter anderem bei der Blumenzwiebelzucht, als Laufbursche und in der Leidener Bahnhofsgaststätte. Die ankommenden, beziehungsweise abfahrenden Züge ließen in ihm den Gedanken reifen, auf Reisen zu gehen. Im April 1931 hielt er sich nachweislich einige Wochen in Berlin auf und soll hier, ohne Erfolg, ein Einreisevisum für die Sowjetunion beantragt haben. Nach Holland kehrte van der Lubbe zu Fuß zurück, in Gronau verbüßte er wegen ‚unerlaubten Hausierens’ eine zweiwöchige Haftstrafe. Im Herbst des gleichen Jahres unternahm er eine weitere Reise, die ihn nach Budapest führte. Im Frühjahr 1932 macht er sich noch einmal zu einer Reise auf. Diese führte ihn zunächst wieder nach Budapest, dann in die damalige Tschechoslowakei und schließlich nach Polen, wo er angeblich versuchte, die Grenze zur Sowjetunion zu überschreiten. Am 12. Juni 1932 wurde van der Lubbe in Utrecht festgenommen. Er war während seiner Abwesenheit von einem Gericht zu einer Gefängnishaft von drei Monaten verurteilt worden, weil er in einem Wohlfahrtsamt eine Scheibe zerstört hatte. Im Herbst 1932 verschlimmerte sich van der Lubbes Augenleiden; er hielt sich deshalb mehrfach, zuletzt bis zum 28. Januar 1933, in der Universitätsklinik Leiden auf. Marinus van der Lubbe war nun schwerst sehgeschädigt, zeitweise konnte er nur Schatten erkennen. Doch etwas besserte sich das, so erkannte er Konturen genauer. Ansonsten wurde er als körperlich gesund entlassen.
Eine feste politische Anbindung von Marinus van der Lubbe ist nur unvollständig geklärt. Fest steht, dass er der Bauarbeitergewerkschaft in den Niederlanden angehörte und im Jugendverband der Kommunistischen Partei der Niederlande aktiv war. Eine Mitgliedschaft der Kommunistischen Partei Hollands, der CPH, bestritt diese bereits in einem Zeitungsartikel einen Tag nach dem Reichstagsbrand. Dies erscheint auch mehr als glaubwürdig, da dementsprechende Unterlagen nicht vorhanden waren und Verschleierungsversuche nicht erkennbar waren und sind. Nachweislich hat van der Lubbe versucht Anschluss an kommunistische Gruppen zu finden, doch ist ihm dies über einen längeren Zeitpunkt hinaus nie gelungen. Auch auf seinen Reisen konnte er nur persönlich ‚Beziehungen’ zu Kommunisten herstellen, zu den entsprechenden Gruppen oder Parteistrukturen fand er nie einen engeren Bezug. Aus den wenigen Äußerungen, die wir von ihm heute noch haben, wissen wir, dass er Probleme pragmatisch, sprich mit Gewalt, lösen wollte; weniger mit ‚mühseliger’ Parteiarbeit. Seine Überzeugungsmechanismen lagen eher auf der Ebene der Körperlichkeit, hier hatte sich das Verhalten des Jugendlichen von damals in dem jungen Erwachsenen verfestigt.
Im Februar 1933 wurde van der Lubbe von ‚deutschen Freunden’ nach Berlin eingeladen. Nach Aussage seiner Vermieterin wurde er am 12. Februar von einem Deutschen aufgesucht, sein Bruder Jan fand später eine mit ‚Fritz’ unterzeichnete Postkarte mit einer Einladung nach Berlin. Einem Bekannten in Leiden gegenüber erwähnte er, dass in Berlin „wichtige Dinge passierten. Er sagte auch, dass in Berlin die Kameraden warteten und ihn zu dringender illegaler Arbeit brauchten.“ Am 18. Februar 1933 traf Marinus van der Lubbe in Berlin ein, in dem Männerheim in der Alexandrinenstraße im Bezirk Kreuzberg kam er unter. Seine Aktivitäten während der folgenden neun Tage konnten bislang nur sehr lückenhaft rekonstruiert werden. Es schein sicher zu sein, dass er Bekannte traf, doch sollte es nähere Verbindungen gegeben haben, so sind diese bis heute nicht geklärt; aus den polizeilichen Akten geht hervor, dass diese bei den späteren Ermittlungen gezielt herausgehalten wurden. Eine plausible Begründung findet sich dafür nicht. Alfred Weiland, Mitte der 1920er Jahre zuerst für kurze Zeit Mitglied der NSDAP, trat dann aber der KPD bei und wurde Autor für das Blatt ‚Kampfruf’, sagte über seine Begegnung mit Marinus van der Lubbe 1967 folgendes: „Ich forderte meine Freunde auf, sich noch am selben Tage, am 23. Februar, mit van der Lubbe zu treffen, um zu erfahren, was er wollte. [...] Van der Lubbe schlug vor, eine revolutionäre Aktion als Fanal zu starten, da er dafür bereits mehrere Gruppen zur tatkräftigen Unterstützung gefunden hatte. [...] Ich sagte meinen Freunden, dass van der Lubbe wahrscheinlich von jemandem aufgehetzt worden sei. Ich wusste, dass die Kommunisten in jener Zeit alle Mitglieder zu strengster Ruhe aufgefordert hatten. So lauteten auch unsere Direktiven. Wir bereiteten uns alle auf die Illegalität vor. Um genauer zu erfahren, was van der Lubbe plante, und da wir übereinstimmend der Meinung waren, dass an der ganzen Sache etwas nicht stimmte, sollte ich den Mann unter bester Absicherung persönlich sprechen[...]. Van der Lubbe erschien am 25. Februar gegen 21 Uhr in der Berliner Straße in Neukölln, aufgeregt und begann sofort, uns eine direkte Aktion vorzuschlagen. [...] Da ich wusste, dass Hitler gerade auf diese Art Aktionen gewartet hatte, um seine Drohungen gegen die Arbeiterbewegung wahr zumachen, konnte ich mich nicht zurückhalten und sagte van der Lubbe wörtlich : 'Du bist Provokateuren aufgesessen.' Darauf bin ich sofort weggegangen.“ Die Aussage von Alfred Weiland kann heute nicht mehr verifiziert werden, doch stimmen die Tendenzen mit den Richtlinien der damaligen KPD überein, die ja auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes für die Reichstagswahlen am 5. März 1933 waren. Die Idee eines Gewaltaktes wäre für die bereits bedrohte gesamte Linke, also KPD und SPD, äußerst kontraproduktiv gewesen. Relativ gut belegt ist, dass sich van der Lubbe wiederholt im Neuköllner Erwerbs- beziehungsweise Obdachlosenmilieu bewegte. Dabei hatte er nachweislich Kontakt zu Personen, von denen inzwischen bekannt ist, dass sie als Spitzel oder ‚agents provocateurs’ der Politischen Polizei agierten, so zu einem Willi Hintze, der am 24. Februar die Gäste eines KPD-Lokals zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Beamte des Neuköllner Wohlfahrtsamtes aufforderte und zu diesem Zweck auch Waffen anbot. Nach eigenen Angaben beging van der Lubbe am Abend des 25. Februar drei kleinere Brandstiftungen: am Wohlfahrtsamt Neukölln, gegen 18.30 Uhr, am Berliner Rathaus, gegen 19.15 Uhr und am Schloss, gegen 20 Uhr. Alle Brandstiftungen waren dilettantisch, erfolglos und wurden von Passanten entdeckt und schnell gelöscht; Schaden entstand keiner. Vor dem Reichstagsbrand wurde van der Lubbe mit diesen ‚Taten’ nicht in Verbindung gebracht. Die Nacht zum 27. Februar verbrachte er im Polizeiasyl von Hennigsdorf, nördlich von Berlin, in einem kleinen Raum mit vier Schlafplätzen direkt im örtlichen Polizeirevier. Warum er dort war ist bis heute nicht geklärt. Dort hielt sich in dieser Nacht eine weitere Person auf, deren Identität und Rolle später mehrfach hinterfragt wurde, geklärt wurde dies nie. Auch über seine Aktivitäten am nächsten Tag, also am Tag des ‚Reichstagsbrands’, gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Zwischen 21.20 Uhr und 21.25 Uhr ließ er sich im brennenden Reichstagsgebäude widerstandslos festnehmen. In seinem ersten Verhör mit der Polizei gab er die Brandstiftung zu und behauptete der alleinige Täter zu sein. Den ersten uniformierten Polizisten zufolge zeigte er sich stolz wegen seiner ‚Großtat’, ja, brüstete sich fast damit. Da die angeblich ‚alleinige’ Täterschaft des Marinus van der Lubbe nicht ins Propagandakonzept der Nationalsozialisten passte, wurden noch Spitzen der KPD als ‚Anstifter’ dem Täter angedichtet. Diese angeblichen Brandanstifter wurden im späteren Prozess entlastet und freigesprochen. Der Prozess vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig begann am 21. September 1933. Zahlreiche, auch internationale, journalistische und juristische Prozessbeobachter haben bezeugt, dass van der Lubbe, den seine Vernehmer noch im Frühjahr 1933 als lebhaft, sehr gesprächig und ‚fixen Jungen’ beschrieben hatten, im Gerichtssaal von Anfang an völlig apathisch auftrat. Er sprach grundsätzlich sehr leise, auf an ihn gerichtete Fragen reagierte er meist nur mit einem knappen Ja oder Nein. Während des Prozesses beschleunigte sich van der Lubbes geistiger und körperlicher Verfall noch. Er saß und stand meist vornübergebeugt, starrte auf den Boden und schien sogar außerstande zu sein, sich die Nase zu putzen. Er war sehr blass, manchmal richtig fahl und grau. Zuletzt erschien sein zuvor auffällig abgemagertes Gesicht plötzlich stark aufgedunsen, während der Schlussplädoyers und der Urteilsverkündung schlief er ein. Lediglich zweimal, am 37. und 42. Verhandlungstag, ‚erwachte’ van der Lubbe kurzzeitig aus seinem Dämmerzustand, wurde munterer und wollte sich in das Geschehen einmischen, woraufhin Senatspräsident Wilhelm Bünger die Verhandlung unterbrach oder vorzeitig beendete. Die Namen der für die Betreuung van der Lubbes verantwortlichen Ärzte, auf deren Tätigkeit der Assistent des psychiatrischen Gutachters Karl Bonhoeffer 1966 verwies, sind bis heute unbekannt. Trotz seines schlechten physischen und psychischen Gesundheitszustandes wurde Marinus van der Lubbe am 23. Dezember 1933 wegen ‚Hochverrats in Tateinheit mit vorsätzlicher Brandstiftung’ zum Tode verurteilt. Das Todesurteil gegen ihn wurde am 10. Januar 1934, drei Tage vor seinem 25. Geburtstag, in Leipzig durch den Henker Alwin Engelhardt mit dem Fallbeil vollstreckt. Marinus van der Lubbe verzichtete ‚freiwillig’ sowohl auf priesterlichen Beistand als auch auf die Möglichkeit, einen Abschiedsbrief zu verfassen. Er wurde auf dem Leipziger Südfriedhof anonym beerdigt.
Im Dezember 2007 wurde das Urteil, auf der Grundlage des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege von 1998, endgültig aufgehoben und für nichtig erklärt. Historisch ist die ‚Tat’ van der Lubbes nie gänzlich aufgearbeitet worden.
Weiterlesen:
➼ Der Reichstagsbrand • Am 27. Februar 1933
➼ Nationalsozialismus: Beginn des Terrors im Lager-System
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Bild 1: Marinus van der Lubbe – Quelle: iigs.nl · Bild 2: Polizeifoto van der Lubbe – Quelle: blogstort.de · Bild 3: Reichstagsbrand – Quelle: wikimedia.org · Bild 4: van der Lubbe vor Gericht – Quelle: executedtoday.com · Bild 5: Marinus van er Lubbe vor Gericht – Quelle: wikimedia.org