»Töte mich, Soldat!«
Nach einer Erzählung von Alexander Solschenizyn, “Ostpreußische Nächte”.
Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa.
“Die Erörterung der Vertreibung hat eine eminente Bedeutung für die Gegenwart. Sie ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte, denn es ereignen sich heute noch weitere Vertreibungen in der Welt, die von der Völkergemeinschaft verurteilt werden müssen.”
Der ungarische Halbjude Sandor Kovacs, der das KZ der Nazis überlebte und bei seinem Heimmarsch nach Budapest durch Prag kam, gab zu Protokoll:
»Im hitlerischen KZ sah ich Sachen, die ich nicht für möglich gehalten hätte, dass sie von Menschen anderen Menschen angetan würden. Als ich im Mai 1945 auf dem Rückmarsch in meine Heimat in Prag vom Ausbruch des tschechischen Wahnsinns überrascht wurde, erlebte ich ein Inferno menschlicher Armseligkeit und moralischer Tiefe, gegen das meine KZ-Zeit fast eine Erholung gewesen war. Frauen und Kinder wurden bei lebendigem Leib mit Petroleum übergossen und angezündet, Männer unter unvorstellbaren Qualen ermordet. Dabei musste ich ausdrücklich feststellen, dass sich die gesamte Bevölkerung an diesem Verbrechen beteiligte, nicht nur der übliche Mob. Ich sah hochelegante junge Tschechinnen, die vielleicht noch vor kurzem mit den deutschen Offizieren geflirtet hatten, und die nun mit Revolver und Hundspeitschen durch die Straßen liefen und Menschen quälten und mordeten, ich sah offensichtlich höhere tschechische Beamte gemeinsam mit tschechischem Straßenmob johlend Frauen vergewaltigen und qualvollst umbringen. Ich fürchtete mich vor einem deutschen Wiedererwachen. Denn was den Deutschen geschah, ist unbeschreiblich!«
Die „Großen Drei“: (von links nach rechts) der britische Premierminister Clement Attlee, der US-Präsident Harry S. Truman, der sowjetische Generalissimus Josef Stalin; stehend dahinter: der US-Admiral William Daniel Leahy, der britische Außenminister Ernest Bevin, der US-Außenminister James F. Byrnes und der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow
Das Schicksal Nachkriegsdeutschlands wurde größtenteils während der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945 festgelegt, und zwar von den drei Hauptalliierten – der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Über die Aufteilung in Zonen, die Entwaffnung, die Reparationen und so weiter – über alles wurde hier förmlich entschieden.
Und der Schrei nach Rache erhielt in Potsdam seine grausige Kodifizierung: Was die Deutschen betraf – und die Deutschen bildeten 1945 die Hauptsorge der Alliierten -, so war Potsdam nur ein Wort, das die brutale Vertreibung von rund 16 Millionen Menschen aus den Ost-gebieten bedeutete, die dann, von der deutschen Bevölkerung gereinigt, von Polen und Russen übernommen werden sollten.
Diese Vertreibungen sollten, mit den beschwichtigenden Worten der Sieger, in »humaner und ordentlicher Weise durchgeführt werden«.
Die verheerenden Auswirkungen des Potsdamer Abkommens lassen sich an den Worten eines Priesters aus der Pfarrei Klosterbrück in Schlesien ablesen, der über den Sommer 1945 berichtete:
»In Schlesien haben die Polen überall Plakate angebracht: ›Wie die Saat, so die Ernte !‹ Ich weiß nicht, was damit gemeint ist.«
In einem Dorf im Sudetenland wurden alle deutschen Frauen zusammengetrieben und ihre Achillessehnen durchschnitten. Während sie schreiend am Boden lagen, wurde ihnen von tschechischen Männern Gewalt angetan. Viele Frauen wurden mehrmals am Tag vergewaltigt, und das Tag für Tag. Der 18jährigen Tochter von Frau X geschah dies wochenlang jeden Tag etwa fünfzehn mal.
So trieben es Tschechen, Polen und Russen im Jahr 1945.
Hermine Mückusch, Hausfrau und Großmutter aus Jägerndorf im Sudetenland, sah solche Szenen im Juni/Juli 1945 fast täglich, während sie, mit ein paar Habseligkeiten beladen, zu Fuß gen Westen getrieben wurde. Ein ganzes Leben, ihren gesamten Besitz, ihre Freunde und Verwandten – alles mußte sie zurücklassen. Sie, ihre Tochter und zwei Enkelkinder durften fast nichts mitnehmen. Ihr Ehemann und ihr Sohn waren bereits am 14. Mai verhaftet und von den Russen nach Ratibor verschleppt worden. Die Frauen und Kinder wurden zunächst in ein Sammellager gebracht, in dem chaotische Zustände herrschten. Die ersten fünf Tage gab es nichts zu essen.
»Am 21. Juni wurde verlautbart, daß Frauen mit Kindern und alte Leute nach Hause gehen und sich melden sollen. Daraufhin meldete sich meine Tochter mit ihren Kindern und mir als Begleitperson … Ich wollte auch meine Mutter und meine Schwester mit nach Hause nehmen. Als wir zur Wache kamen, brüllte uns ein [tschechischer] Partisan an, was denn das alte Weib hier will; und als ich erklärte, es wäre doch meine alte Mutter, stieß er sie hart und brüsk weg und drohte sie zu schlagen … So mußte ich meine Mutter und auch meine Schwester ohne einen Abschiedsgruß oder Händedruck verlassen.«
Sie sah sie nie wieder. Das tschechische Begleitkommando versuchte die Vertriebenen ins polnisch verwaltete Schlesien abzuschieben. Als die Polen sich weigerten, ging es wieder zurück, und wiederum hofften die Frauen, daß sie nun doch in ihrer Heimat bleiben dürften.
»Das Bild, welches der Transport nun schon bot, war ein schreckliches. Die jungen Mütter saßen mit ihren Kindern am Straßenrand, schmutzig, zum Teil ohne Schuhe, durstig und abgezehrt, die größeren Kinder lagen im Grase, rot im Gesicht vor Fieber und Hitze, und baten um etwas zu trinken, was man ihnen jedoch nicht geben konnte, weil seitens der Tschechen auch nicht das mindeste für die Versorgung der Transporte getan wurde; und es hatte den Anschein, daß man mit Absicht jede Versorgung der Transporte mit Nahrung und Getränken unterließ, damit die Menschen zugrunde gehen sollten.«
Als der größere Enkel hohes Fieber bekam, gab ihr der Transportführer »großmütig etwas Aspirin«. Sie kamen durch Spornhau, wo »die aus der Tschechei ins Sudetenland eingewanderten Tschechen ein großes Gartenfest mit Musik abhielten, welches so recht unsere verzweifelte Lage, in der wir uns durch den verlorenen Krieg befanden, vor Augen führte«. Die Rollen hatten sich vertauscht.
»Im Lager [Grulich] herrschten die schrecklichsten Zustände. Stroh gab es nicht, … 80jährige Leute lagen auf dem Zementfußboden im eigenen Kot… Die Leute starben auch in dieser Lage … In den Räumen war die Luft unerträglich, und es konnte niemand, welcher einmal im Freien war, ohne Grauen wieder ins Lager zurückkehren … Tote Kinder lagen umher, andere weinten vor Hunger und Durst, wieder andere lagen teilnahmslos im Fieber am Boden.«
Frau Mückusch, ihre Tochter und Enkel konnten sich nun kaum noch auf den Beinen halten und wurden mit vielen anderen, die ebenfalls bereits halbtot waren, vom Lagerarzt in ein nahes, aber bereits überfülltes Krankenhaus eingewiesen,
»doch war bei den meisten eingelieferten Kindern schon jede Hilfe vergebens, und innerhalb 14 Tagen starben von den 27 Kindern im Alter unter einem Jahr 26, so daß nur eines am Leben blieb, und dies war unser Wolfi. Die Kinder wurden in große Särge, zu fünf bis sieben in einen, gelegt und begraben. Die Kinder starben alle mit offenen Augen und offenem Mund, und in die Sterbeurkunde wurde als Todesursache ›Hungertod‹ eingetragen.« (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S. 363-373)
Ein Dr. Ing. Kurt Schmidt berichtete über die Internierung von Brünner Deutschen in Pribam durch tschechische Aufständische ab dem 5. Mai 1945 und die Verhältnisse im Internierungslager, nachdem die Sowjets am 9. Mai dort einmarschiert waren:
»Die Russen kamen und holten sich, von den Tschechen unterstützt, was ihnen gefiel, wobei sie entsprechende Gewalt anwandten. So wurde … eine Frau, welche sich den Russen nicht fügen wollte, vom dritten Stockwerk in den Hof gestürzt. Im gleichen Lager wurde eine Frau, deren Kinder sich auch dort befanden, so lange vergewaltigt, bis sie tot liegen blieb.«
Beim anschließenden Transport von Pribam nach Prag, ins Strahover Stadion, kamen, wie Schmidt von einem polnischen Rot-Kreuz-Angehörigen erfuhr, von den 1300 internierten Brünner Deutschen 300 um. Die Sterberate unter den 9000 bis 10 000 Internierten im Strahover Stadion läßt sich leicht errechnen, wenn man Schmidts Beobachtung zugrunde legt, daß täglich 12 bis 20 Leichen »mit einem Karrenwagen vom Stadion weggeführt« wurden. Demnach betrug die Sterberate dort, aufs Jahr hochgerechnet, zwischen 43 und 81 Prozent.
»So starben die Kinder den Müttern und die Mütter den Kindern … Ein Rot-Kreuz-Angehöriger in unserem ›Treck‹ (Gruppe von 400-500 Personen) hatte einen zweieinhalbjährigen Jungen bei sich, den er einer sterbenden Mutter im Lager abgenommen hatte und von dem er nur eine Adresse wußte.«
Der Autor dieses Berichtes, einem von vielen Tausenden, die von deutschen und anderen Behörden nach der Ankunft der Vertriebenen in Deutschland eidesstattlich aufgenommen wurden, verlor seinen Schwiegervater und eine Schwägerin (die, wie er später erfuhr, wegen Arbeitsunfähigkeit zur nordböhmischen Grenze, Richtung Bautzen, abtransportiert, dort ihrem Schicksal überlassen worden waren und vor Entkräftung starben) sowie seinen fünfzehn Monate alten Sohn. Die anderen wurden auf Arbeitslager verteilt.
»Ich kam mit meiner Familie am 3. Juni nach Kojetitz (Kojetice), 20 km nördlich von Prag, zum Landeinsatz.« Sie mußten »Zuckerrüben hacken [und]waren in einem Pferdestall untergebracht, auf nassem Stroh«.
»Sämtliche Erwachsene mußten tagsüber arbeiten gehen. Es wurde weder auf Alter noch sonstige Umstände Rücksicht genommen, auch die Mütter mußten arbeiten gehen und die Kinder sich selbst überlassen … An Verpflegung gab es das ganze Jahr hindurch für alle die gleiche Hungerkost… Es gab unter der tschechischen Bevölkerung wohl einige, die mit uns etwas Mitleid hatten, doch trauten sich diese nicht, uns merklich zu helfen, da sie dann sofort als deutsch-freundlich verschrien und sogar selbst in ihrer Existenz bedroht wurden.« Elf Monate später, am 1./2. Mai 1946, wurden sie »nach Bayern ausgefertigt« und »vom Bayerischen Roten Kreuz in vorbildlicher Weise aufgenommen«. (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S. 157-168)
Ein ehemaliger Funktionär der tschechischen Verwaltungskommission in Aussig verglich die Vertreibungen rund um Aussig bewußt mit einem berüchtigten Nazi-Massaker. In einem tschechischen Emigrantenblatt, das 1948 in London erschien, schrieb er, das Nazi-Massaker von
»Lidice war ein Fanal zur Aufrüttelung der ganzen zivilisierten Welt gegen die grausamste [Nazi-] Tyrannei und die Entartung eines totalitären Regimes. Die Wahrheit und die Menschlichkeit standen damals in der Welt auf unserer Seite. Wir hatten das Recht und die Pflicht, uns nach Beendigung des Krieges mit den Verbrechern gegen die Menschlichkeit aus-einander zusetzen. Allerdings wurde diese Auseinandersetzung in den Grenzgebieten durch eine noch größere Unmenschlichkeit überschattet als die, die die nazistischen Verbrecher in sich trugen.«
Er beschrieb einen dieser Akte der Unmenschlichkeit, der von kommunistischen Provokateuren und tschechischen Soldaten auf einer Elbbrücke begangen wurde:
»Die Deutschen, die weiße Armbinden trugen und von der Arbeit heimkehrten, wurden die ersten Opfer auf der Benes-Brücke. Das Militär, das … aufgefordert worden war, jedes Massaker zu verhindern, folgte dieser Aufforderung nicht und mordete mit. Eine Mutter, die ihr Kind im Wagen über die Brücke fuhr, wurde mit Latten erschlagen, mit dem Kind über das Geländer in die Elbe geworfen, unter Begleitfeuer aus Maschinenpistolen. Ein weiterer Vorfall … war jener deutsche Antifaschist, der nach vier Jahren aus dem Konzentrationslager zurückkehrte … Diesem … wurden die Haare ausgerissen und dann der Bauch durchschossen. Er starb auf der Stelle. Dergleichen Fälle gab es Hunderte … In drei Stunden waren mehr als 2000 Menschen erschlagen.« (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S. 285)
Ein katholischer Priester berichtete aus einem Internierungslager für Heimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Dubí bei Kladno, nordwestlich von Prag:
»Die Toten, die jeden Tag ›anfíelen‹, wurden in einen größeren alten Sarg gelegt, meist mehrere auf einmal, auf einem Wägelchen in das etwa 3 km entfernt gelegene Dorf Rapice gefahren und dort in einem Massengrab hinter der Friedhofsmauer ›bestattet‹, d.h. der Sarg wurde einfach umgekippt, auf die Toten etwas Erde geworfen, so daß sie nur etwas bedeckt waren, und darauf wurden dann wieder die anderen Toten aufgeschichtet. Der Sarg wurde wieder mit nach Hause genommen.« (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S.338)
Ein Priester aus der Gemeinde Klosterbrück in Schlesien berichtete über Polen und Russen:
»Ich weiß Fälle, da haben die Russen mit roher Gewalt die Mutter vergewaltigt, während die Kinder zuschauten. Dann blieben sie noch da, nahmen die Kinder auf die Arme, gaben ihnen Brot und Butter und Zucker und freuten sich. Ich glaube, wenn die den Bolschewismus nicht hätten, wären sie ganz andere Menschen. Deren Bosheit ist anders als etwa die Bosheit der Polen. Die Bosheit der Miliz erinnert an die Bosheit der SS. Sie ist kalt und giftig, die der Russen dagegen warm.« (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S. 187)
Aber nicht alle Polen waren so. Der Pfarrer von Dittersdorf, der sich »immer für sie eingesetzt und ihnen trotz Hitlerverbots Zutritt zum Gottesdienst in der Pfarrkirche gewährleistet« und der die in seiner »Wirtschaft« beschäftigten Leute »immer gut behandelt, reichlich ernährt und meistens vollständig eingekleidet« hatte, wurde nach Kriegsende von vier betrunkenen Polen in seiner Pfarrei überfallen und halbtot geschlagen. Einer der Täter, der früher bei ihm beschäftigt gewesen war, kam zwei Tage später, wieder nüchtern geworden, zu ihm, »um unter vielen Tränen um Verzeihung zu bitten«. Wiederum drei Tage später kamen auch noch sämtliche »hohen Offiziere der Räubermiliz« in der Gegend zu dem Pfarrer, »um ihr Bedauern auszusprechen, die Übeltäter sollten streng bestraft werden, was aber natürlich nie geschah«. (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1S.192 f.)
Die Einwohner der Gemeinde Bielitz, Kreis Falkenberg, in Oberschlesien, zumeist Bauern, wurden von der polnischen Miliz zusammen getrieben und in das Straflager Lamsdorf geschafft. Dort wurden sie immer wieder brutal geschlagen, oft mit tödlicher Folge, und ausgeplündert. Einer von ihnen verlor in diesem Sommer 1945 sieben Familienmitglieder. Und all dies, obwohl auf den »Austreibungsplakaten« allenthalben zu lesen stand, »daß die ›Aussiedlung‹ in humaner Weise geschehen werde und jeder soviel Gepäck, wie er zu tragen imstande sei, mitnehmen könne«. (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S. 197)
Über die Geschehnisse in Neisse (Oberschlesien) beim Einrücken der Roten Armee am 24. März 1945 schrieb ein katholischer Priester:
»Bereits in der ersten Nacht wurden viele Schwestern und Frauen gegen 50mal vergewaltigt. Die Schwestern, die sich mit aller Gewalt wehrten, wurden teils erschossen, teils unter furchtbaren Mißhandlungen in einen Zustand physischer Erschöpfung gebracht, der ein weiteres Sich wehren unmöglich machte. So warf man Ordensschwestern auf den Boden, bearbeitete sie mit Fußtritten, schlug mit Pistolen und Gewehrkolben auf den Kopf und ins Gesicht, bis sie blutüberströmt, zerfleischt und verschwollen bewußtlos zusammen-brachen und in diesem Zustand ein hilfloses Objekt einer Leidenschaftlichkeit waren, die uns in ihrem Untermenschentum und ihrer Perversität unbegreiflich war. Die gleichen grausamen Szenen spielten sich in Krankenhäusern, Altersheimen und anderen Niederlassungen ab. Selbst 70- bis 80 jährige Schwestern, die krank oder vollständig gelähmt in ihren Betten lagen, wurden von diesen Wüstlingen immer wieder schändlich vergewaltigt und mißhandelt. Nicht etwa im geheimen, in verborgenen Schlupfwinkeln, sondern vor den Augen aller, selbst in Kirchen, auf Straßen und öffentlichen Plätzen waren Schwestern, Frauen, ja selbst 8 jährige Kinder immer wieder der gemeinen Gewalt preisgegeben. Mütter vor ihren Kindern, Mädchen vor ihren Brüdern, Ordensschwestern selbst vor halberwachsenen Jungen wurden bis in den Tod und noch als Leichen mißbraucht. Geistliche, die die Schwestern zu schützen suchten, wurden rücksichtslos gepackt und unter Todesandrohungen weggeschleppt.« (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S.223)
In jeder derartigen Tragödie gibt es aber auch genügend Menschen, die nicht zu Monstern werden, sondern ihre natürliche Höflichkeit und Herzensgüte bewahren. So gibt es auch Momente des Aufatmens in diesen traurigen Berichten. Die Priester, die hiervon berichteten, waren schnell dabei, in diesen Gegenbeispielen die Hand Gottes – oder den Einfluß der Kirche – zu sehen, doch hatten religiöse Lehren nichts mit der Freundlichkeit zu tun, die ebenfalls unter den heidnischen Bolschewiken anzutreffen war. Oftmals liest man von warmherzigen russischen Offizieren, die sich über schikanöse Vorschriften hinwegsetzten oder hungernden Flüchtlingen von ihren eigenen Vorräten abgaben, die sie anderen Deutschen vorher abgenommen hatten. Zwei jüdische Mädchen aus Breslau, die während des Krieges von einer deutschen Familie, die dabei ihr Leben aufs Spiel setzte, in Maifritzendorf versteckt worden waren, gingen geradewegs zu dem sowjetischen Kommandeur, als dieser in Maifritzendorf eintraf, und erzählten ihm ihre Geschichte. Man glaubte ihnen, und die Güte der Deutschen, von den jüdischen Mädchen vergolten, übertrug sich nun auch auf die Russen. Der Sowjetkommandeur ging so weit, dem Dorfkaplan ein mit Hammer und Sichel versehenes Dokument zu überreichen, das die Dorfbewohner von nun an vor Übergriffen schützte, denen sie zuvor bereits ausgesetzt gewesen waren. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S. 324)
Bei den Protestanten und Katholiken, die ich in Frankreich interviewte, weil sie während des Krieges so vielen Flüchtlingen geholfen hatten, stieß ich auf eine seltsame Verschlossenheit, ja Feindseligkeit gegenüber meinen Fragen. Dies konnte ich zunächst nicht verstehen, doch dann wurde es mir von einer Frau in Chambon-sur-Lignon erklärt: Ich hatte Lob und Bewunderung für die Handlungen dieser Dorfbewohner zum Ausdruck gebracht, die unter eigener Lebensgefahr Tausende von Flüchtlingen gerettet hatten. Die Frau lehrte mich, daß es ganz anders gewesen war, als ich es mir vorstellte. »Was wir taten, war doch ganz normal«, sagte sie. »Es waren die Nazis, die nicht normal waren.« Für sie war es ganz natürlich gewesen, ihr Leben für andere zu riskieren. Es war die Banalität des Guten. Zahlreiche Geistliche, darunter auch eine große Zahl Nazigegner, wurden im Frühjahr und Sommer 1945 von Polen und Russen in den Ostgebieten umgebracht, darunter rund 45 katholische Priester in Oberschlesien, die »ihre Hirtentreue mit ihrem Blute besiegelte(n)«. (Verschwiegene Schuld. Die alliierte Besatzungspolitik in Deutschland nach 1945, S.116)
Allein in der Gemeinde Birkenau teilten vier Priester nachträglich das Schicksal der Zehntausende, die im benachbarten Konzentrationslager, ausgemergelt von der Zwangsarbeit in den IG-Farben-Betrieben, den Tod gefunden hatten. (Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bd. IV/1 S. 495)
Der große russische Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn, der ganz enorm zum Sturz des Sowjetregimes beigetragen hat, schrieb 1950 eine durch und durch ehrliche Versdichtung über die Eroberung Preußens durch die Rote Armee im Jahr 1945. Für seine Kritik an Stalin wurde er bald darauf inhaftiert. An einer Stelle des Gedichts heißt es:
Zweiundzwanzig, Höringstraße.
Noch kein Brand, doch wüst, geplündert. Durch die Wand gedämpft – ein Stöhnen: Lebend finde ich noch die Mutter. Waren’s viel auf der Matratze? Kompanie? Ein Zug? Was macht es! Tochter – Kind noch, gleich getötet. Alles schlicht nach der Parole: NICHTS VERGESSEN! NICHTS VERZEIH’N! BLUT FÜR BLUT! – und Zahn für Zahn. Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe, und die Weiber – Leichen bald. Schon vernebelt, Augen blutig, bittet: »Töte mich, Soldat!« (Quelle: Alexander Solschenizyn, Ostpreußische Nächte, S.35.)
In den letzten Zeilen seiner Dichtung bekennt Solschenizyn, daß auch er eine gefangene Frau mißbraucht hat.
Quellen:
Theodor Schieder, Werner Conze - Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei Bd. IV/1:
James Bacque - Verschwiegene Schuld. Die alliierte Besatzungspolitik in Deutschland nach 1945
Prof. Dr. Dr. Alfred Maurice de Zayas: Thesen zur Vertreibung der Deutschen.
Prof. Dr. Dr. Alfred Maurice de Zayas: Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten.
Hans-Jürgen Bömelburg, Historiker: Vertreibung aus dem Osten: Deutsche und Polen erinnern sich.
Der Honigmann sagt…Der etwas andere weblog…Thema Vertreibung
Artikel LupoCattivoBlog: Prag-Historiker-Konferenz: ‘Edvard Beneš’ umstrittener Politiker und Freimauerer
Artikel LupoCattivoBlog:Die Katastrophe der Vertreibung der Deutschen und ihre langfristigen Konsequenzen…
Alexander Solschenizyn, Ostpreußische Nächte - Ostpreußische Nächte ist ein Gedicht bzw. eine Erzählung von Alexander Solschenizyn, dem russischen Schriftsteller und Träger des Nobelpreises für Literatur. Sie wurden, wie Der Archipel Gulag, erst nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion im Jahre 1974 veröffentlicht. Solschenizyn schrieb darin seine Erlebnisse während der Einnahme Ostpreußens in Gedichtform im Band Ostpreußische Nächte und als Erzählung in Schwenkitten ’45 nieder. So schilderte er eine Szene in der Stadt Neidenburg in Masuren, unter anderem mit „Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe / und die Weiber – Leichen bald.“
“Die Erörterung der Vertreibung hat eine eminente Bedeutung für die Gegenwart. Sie ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte, denn es ereignen sich heute noch weitere Vertreibungen in der Welt, die von der Völkergemeinschaft verurteilt werden müssen.”