Wer hat Angst vor Halloween?

Zu Halloween ziehen wieder zahlreiche mehr oder weniger phantasievoll verkleidete kleine Monster, Hexen und Vampire durch die Straßen und verlangen von der erwachsenen Bevölkerung Süßes und drohen für den Fall, keine Süßigkeiten zu erhalten, mit Saurem. Persönlich habe ich ein eher distanziertes Verhältnis zu Halloween und kann mit den überdrehten, nach Zuckerzeug gierenden Kindern nur wenig anfangen. Dennoch sollte man sich auf Halloween kulinarisch und mental gut vorbereiten. Denn diesen Tag ohne ausreichenden und zufriedenstellenden Vorrat an Süßigkeiten zu bestreiten, kann sehr anstrengend sein. Aber lesen Sie am besten selbst.

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Morgen hat die Tochter Geburtstag und daher muss ich heute von zuhause aus arbeiten. Ein Zusammenhang, der auf den ersten Blick nicht ganz ersichtlich scheint. Dabei ist es ganz einfach: Schon vor Monaten hat sich die Tochter sehnlichst eine Porzellan-Ballerina gewünscht. Sie geht nämlich seit zwei Jahren zum Ballett-Unterricht und möchte dies nun offenbar in ihrem Zimmer durch einen ästhetisch eher fragwürdigen Dekorationsgegenstand plakativ zur Schau stellen.

Ich wurde dazu auserkoren, die porzellanene Tänzerin zu besorgen. Wochenlang ermahnte mich die Freundin, es auf keinen Fall zu vergessen. Und genauso lang tat ich ihre Ermahnungen leicht beleidigt ab und versicherte ihr großspurig, sie solle sich mal keine Sorgen machen.

Zu meiner großen Überraschung stellte sich dann gestern in meiner Mittagspause heraus, dass es gar nicht so einfach ist, solch eine Porzellan-Figur im Berliner Einzelhandel zu erwerben. Nachdem ich erfolglos mehrere Einkaufszentren aufgesucht hatte, bestellte ich die Figur im Internet und bezahlte einen horrenden Expresszuschlag, um sicherzustellen, dass die von der Tochter so sehnlich erwünschte Tänzerin noch vor ihrem Geburtstag geliefert wird.

Und daher arbeite ich heute daheim und bin bereit die wertvolle Lieferung in Empfang zu nehmen.

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Das Arbeiten im Home Office geht in erstaunlich schnellem Tempo voran. Auch kleinere prokrastinative Unterbrechungen wie Zeitunglesen, Kaffeekochen, Fernsehschauen und Wäschefalten behindern den Arbeitsfluss nur unmerklich.

Allerdings ist mein Adrenalinpegel leicht erhöht. Es ist mittlerweile schon kurz nach 16 Uhr und das Paket mit der Porzellan-Ballerina wurde noch nicht angeliefert. Habe das mahnende Gesicht der Freundin vor Augen, wie sie gestern Abend verkündete, ich solle bloß hoffen, dass das Päckchen rechtzeitig eintrifft. Sonst könne ich der enttäuschten Tochter erklären, warum sie ihre Ballerina nicht bekommt.

Eine äußerst Furcht einflößende Vorstellung. Genauso Furcht einflößend wie die sich in unguter Vorahnung abzeichnende Zornesfalte auf der Stirn der Freundin.

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Lenke mich ab, indem ich die Buchhaltung der letzten Monate aufbereite. Da klingelt es. Endlich, der Paketmann ist da!

Öffne ihm die Tür. Vor mir steht aber kein gestresster DHL-Bote, sondern ein kleines Skelett. Und neben ihm ein kaum größerer Vampir. Beide rufen mir ein entschlossenes „Süßes oder Saures!“ entgegen.

Bin mit der Situation überfordert. Was wollen die beiden von mir? Haben sie mir eine Frage gestellt? Oder bieten sie mir etwas an, das es wahlweise in süßer oder saurer Geschmacksrichtung gibt? Vielleicht etwas Asiatisches? Und warum sind sie verkleidet?

Anscheinend habe ich zu lange nichts gesagt, denn die beiden werden allmählich unruhig. Schüchtern sagt das Skelett: „Es ist Halloween. Wir hätten gerne Süßigkeiten, sonst müssten wir Ihnen Saures geben!“

Da fällt es mir mit Schaudern ein. Genau, heute ist Halloween! Diese Erfindung der Süßwaren-, Verkleidungs- und Kürbisindustrie, die ihnen jährlich Millionenumsätze beschert. Wie konnte ich das nur vergessen?

Ungünstigerweise bin ich auf marodierende Halloween-Kinder nur unzureichend vorbereitet. Ich habe keine Süßigkeiten in der Wohnung, die ich den Kindern buchstäblich in den Rachen werfen könnte. Um präzise zu sein: Ich habe keine Süßigkeiten mehr in der Wohnung, die ich den Kindern buchstäblich in den Rachen werfen könnte.

In diesem Moment dämmert mir nämlich, dass die Freundin die Schale mit den Schokobonbons und Gummibärchen anscheinend gar nicht als kleine Aufmerksamkeit für mich auf die Kommode im Flur gestellt hat, um mir die Heimarbeit zu versüßen. Stattdessen waren die Süßigkeiten wohl als Halloween-Gabe gedacht. Inzwischen ist die Schale aber leer. Vollkommen leer. Leerer als mein Geldbeutel zum Monatsende.

Das war bei mir allerdings auch nicht anders zu erwarten. Frage mich, wie wenig mich die Freundin eigentlich kennt. Sie müsste doch wissen, dass mir kulinarische Selbstdisziplin vollkommen fremd ist, während ich für meinen hedonistisch-lustmaximierenden Hang zur Völlerei bekannt bin.

Suche hektisch nach zuckerhaltigen Alternativen, die ich den Kindern vorschlagen könnte. Das einzig Süße in der Wohnung ist ein halb volles Glas Nutella. Okay, ein zu noch einem Drittel beziehungsweise knapp einem Viertel gefülltes Glas Nutella. Nun gut, am Boden des Glases befinden sich noch ein paar kümmerliche Nutellaspuren.

Im Obstkorb liegt außerdem noch eine sehr reife, schon ziemlich dunkle Banane. Die Kinder ekeln sich vor ihr und wollen sie nicht. Habe jedoch nichts anderes. Gebe ihnen schließlich Plastiklöffel, mit denen sie die Reste aus dem Nutellaglas kratzen dürfen. Skelett und Vampir ziehen missmutig von dannen.

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Kaum habe ich mich wieder an den Schreibtisch gesetzt, läutet es erneut an der Tür. Ein Mädchen mit Scream-Maske schaut mich erwartungsvoll an. Ihre rosafarbene glitzernde Jacke mit Lillifee-Aufnäher vergrößert den Schockeffekt ihrer Verkleidung beträchtlich. Ihre Begleitung – ein Junge mit Frankensteinmaske – ist dagegen wesentlich weniger Furcht erregend. Beide rufen mir ein forderndes „Süßes oder Saures“ entgegen.

Möchte Zeit gewinnen und belehre sie, es sei sehr ungezogen, nicht „Guten Tag“ zu sagen und es gezieme sich, sich erst einmal vorzustellen, bevor man nach Süßigkeiten verlange. Ob sie Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig Knigge und seinen Benimmregeln nicht kennen würden, will ich von ihnen wissen. Die beiden zeigen sich wenig beeindruckt von meinen antiquierten Vorstellungen von Etikette und Höflichkeit. Sie rufen noch etwas lauter: „Süßes oder Saures.“

Offeriere ihnen die mumifizierte Banane. Diese stößt auf noch weniger Begeisterung als meine Erziehungsversuche. Ebenso wenig wie die Zitrone, die ich Ihnen verzweifelt anbiete. Die Screamerin und der Mini-Frankenstein werden allmählich ungeduldig und knurren, gleich gäbe es wirklich Saures.

Entdecke im Kühlschrank eine Flasche Jägermeister, die ich aber als Halloween-Gabe für minderjährige Monster als ungeeignet erachte. Werde nach längerem nervösen Suchen in der Schublade mit den Backzutaten fündig. Dort liegt ein Rest Blockschokolade. Sie ist schon ein wenig angelaufen, aber die beiden geben sich damit zufrieden und ziehen zu meiner Erleichterung ab. Genehmige mir einen Jägermeister.

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Habe mich am Schreibtisch kaum wieder den Quittungen und Rechnungen gewidmet, als es Sturm läutet. Im Bewusstsein des Mangels an zufriedenstellenden Süßigkeiten mache ich leicht panisch auf. Vor der Tür steht eine Gruppe von fünf Hexen, die mir im Chor das obligatorische „Süßes oder Saures“ entgegenschleudern.

Versuche sie in ein Gespräch zu verwickeln. Frage, ob sie wüssten, dass heute Reformationstag sei und ob sie schon einmal den Namen Martin Luther gehört haben. Haben sie nicht. Breche meine Ausführungen ab, da ich sie mit dem Lutherschen Thesen-Anschlag an die Wittenberger Schlosskirche nicht auf die Idee bringen möchte, uns etwas an die Tür zu nageln.

Preise stattdessen krampfhaft die gammelige Banane an. Sie lehnen murrend ab. Den leicht verschrumpelten Apfel wollen sie genauso wenig wie das streng riechende Stück Camembert, das ich aus dem Kühlschrank hole. Die Stimmung beginnt allmählich zu kippen. Gebe ihnen schließlich aus der Back-Schublade fünf Päckchen Vanille-Zucker. Die Hexen beschweren sich lautstark und entfernen sich schlecht gelaunt. Trinke zur Beruhigung noch einen Jägermeister.

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Bin noch nicht zurück am Schreibtisch angelangt, als es erneut schellt. Mir platzt der Kragen. Reiße die Tür auf und brülle, dass ich zum Teufel noch mal meine gottverdammte Ruhe haben will und es gleich Saures von mir gebe. Blicke in die verstörten Gesichter zweier Zeugen Jehovas. Sie schauen mich ängstlich an, als sei ich der Satan persönlich, der gerade das Armageddon einläutet und ihnen offenbart, dass für sie kein Platz im Himmelreich übrig sei.

Um ihr traumatisches Erlebnis abzumildern, möchte ich ihnen die Banane schenken. Sie verweigern die Annahme und entfernen sich fluchtartig. Einen Jägermeister wollen sie auch nicht. Aber ich. Hicks!

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Gehe ins Arbeitszimmer und widme mich leicht benebelt der Buchhaltung. Es läutet wieder. Diesmal sind es ein Mini-Monster und eine nicht ganz so schreckliche Prinzessin, die mich mit dem „Süßes oder Saures“-Spruch begrüßen.

Zeige ihnen euphorisch die Bananen-Mumie. Sie schütteln angewidert ihre Köpfe. Der Schrumpel-Apfel und der Stinke-Camembert werden von ihnen ebenfalls als unzureichende Halloween-Gabe erachtet.

Das Mädchen beginnt ganz unprinzessinenhaft zu fluchen. Mein Herzschlag erhöht sich, die Schweißdrüsen arbeiten auf Hochtouren. Bevor die beiden Amok laufen, dränge ich ihnen ein halb volles Döschen mit Liebesperlen aus der Back-Schublade auf. Irritiert suchen sie das Weite. Ein weiterer Jägermeister hilft mir den Puls wieder auf Normalgeschwindigkeit zu bringen.

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Schließe die Tür, als es sofort wieder klopft. Diesmal fordern ein paar Jugendliche verkleidet als Mumie, Werwolf und Dracula Süßigkeiten ein. Die Mumie, die anscheinend der Anführer der Gruppe ist, stößt, die Grenzen der deutschen Grammatik und Syntax stark strapazierend, hervor: „Alter, gibst du Süßes. Sonst tun wir Saures.“ Gebe der jugendlichen Monsterbande zu verstehen, dass mir das Konzept der Halloween-Bettelei durchaus bekannt sei. Fuchtel mit der Gammel-Banane vor ihren Gesichtern herum. Die Monsterbande macht Kotzgeräusche.

Halte mir die Banane wie ein Telefon ans Ohr und sage: „E.T. nach Hause telefonieren.“ Die Banane riecht süßlich-modrig. Stoße auf und unterdrücke mit Mühe einen Spuckreflex. Die Jungs schauen mich an, als sei ich betrunken. Dies spricht trotz ihrer debilen Gesichtsausdrücke für ihre scharfsinnige und präzise Auffassungsgabe.

Versuche ohne Erfolg, ihnen Apfel und Camembert schmackhaft zu machen. Das geöffnete Päckchen Puderzucker aus der Backschublade, das ich ihnen in meiner Verzweiflung andrehen will, wird von den halbstarken Monstern genauso verschmäht.

Spiele mit dem Gedanken, alle gesetzlichen Vorschriften zum Thema Altersgrenzen beim Genuss von Alkoholika zu ignorieren und ihnen die halbvolle Flasche Jägermeister zu überlassen. Nehme jedoch aus Gründen des Eigenbedarfs Abstand davon. Genehmige mir stattdessen einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Die Monster-Pubertanten schauen mir gierig zu.

Überreiche Ihnen schließlich hastig ein Dextroenergen-Traubenzucker, das sie sich teilen müssen. Scheuche sie mit der muffeligen Banane weg. Die Jugendlichen ziehen ab und bringen wüst fluchend ihr Missfallen ob der unzulänglichen Beute zum Ausdruck. Trinke einen doppelten Jägermeister.

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Anscheinend spricht es sich in der Nachbarschaft nicht herum, dass es bei mir nichts zu holen gibt. In den folgenden anderthalb Stunden klingeln bei uns weitere acht Vampire, drei Frankensteins, sechs Hexen, vier Skelette, sieben Zombies, zwei Freddy Krüger, fünf Werwölfe und irritierenderweise eine Vogelscheuche. Letztere entpuppt sich allerdings als eine Nachbarin aus der Studenten-WG, die sich Zucker borgen möchte.

Da die Back-Schublade nichts mehr hergibt, lassen die jungen Halloween-Fanatiker ihrem Unmut über ihren erfolglosen Beutezug freien Lauf. Unsere Türklinke ist mit Rasierschaum, Zahnpasta und Butter eingeschmiert, an der Tür selbst kleben vier Eier, der Briefkasten ist vollgestopft mit nassem Toilettenpapier und auf dem Klingelschild ist mein Name mit schwarzem Edding durch das Wort Furzgesicht ersetzt.

Mein Jägermeister-Konsum nimmt derweil besorgniserregende Ausmaße an.

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Vom Kräuterlikör beschwingt beschließe ich, dass es an der Zeit ist, Gegenmaßnahmen einzuleiten. Nehme mir ein altes Betttuch, schneide zwei Löcher für die Augen hinein und werfe es mir über. Betrachte mich zufrieden im Spiegel. Die perfekte Gespensterverkleidung, mit der ich gute Chancen hätte, einen Oscar für das beste Kostüm zu gewinnen. Oder einen Blumentopf. Egal! Schneide noch ein weiteres Loch für den Mund in das Tuch, damit die Jägermeister-Zufuhr sichergestellt ist.

Warte nun hinter der Tür, um den nächsten bettelnden Kindern einen gehörigen Schrecken einzujagen. Das soll auch den anderen Gören im Viertel eine Lehre sein. Für dieses und die kommenden Jahre.

Muss nicht lange warten, bis es wieder läutet. Reiße mit Schwung die Tür auf, springe mit in die Höhe gereckten Armen nach draußen und schreie ein markerschütterndes „Buuuh!“.

Vor der Tür steht der Paketbote. Er stößt einen spitzen Schrei aus. Schwanke auf ihn zu, um ihn zu beruhigen. Er lässt vor Schreck das Päckchen aus den Händen fallen. Es scheppert und klirrt laut. Sehr laut. Habe starke Zweifel, dass die Porzellan-Ballerina noch in einem Stück ist.

Schätze, wenn die Freundin heute Abend nachhause kommt, gibt es wohl noch mehr Saures für mich. Verlasse daher fluchtartig in meinem Gespensterkostüm die Wohnung und ziehe durch die Nachbarschaft. Vielleicht kann ich irgendwo eine Porzellan-Tänzerin erbeuten. Oder eine Flasche Jägermeister. Prost!


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