Wer die Nase rümpft, hat dem Leben noch nie in den Hintern geschaut

Von European-Cultural-News

Sie kommen in Bademänteln auf die Bühne. Erna, Grete und das Mariedl. Die Haare mit Lockenwicklern verziert, mit Haarspangen fixiert oder, wie bei Erna, unter einer weißen Fellmütze versteckt. Sie kommen von hinten, durch den Mittelgang des Zuschauerraumes und singen ein textloses Lied auf lalala. Dass es einen religiösen Hintergrund hat, soviel kann man aus der choralähnlichen Melodie erahnen, aber nicht mehr. Den Zuseherinnen und Zusehern schauen sie im Vorbeigehen in die Augen und tun dies noch, als sie an der Bühne angekommen sind. Erna (Katja Kolm), die ihr Leben ihrem trunksüchtigen Sohn Hermann geopfert hat und sich eine Zukunft als Fleischersgattin an der Seite von Karol Wottila ersehnt, Grete (Claudia Sabitzer), die den Missbrauch ihrer Tochter durch ihren Vater billigte und das bigotte Mariedl (Martina Stilp), das nicht umsonst einen sächlichen bestimmten Artikel vor ihrem Namen trägt. „Die Präsidentinnen“ heißt das Stück von Werner Schwab, welches sie an diesem Abend im Volkstheater spielen. Jenes Stück, mit dem der Provokateur Schwab berühmt wurde, das ihm zum Durchbruch an den deutschsprachigen Bühnen verhalf, wenngleich mit Anlaufschwierigkeiten und auch viel zu spät, denn nur mehr wenige Jahre blieben dem Autor von seinem Leben noch übrig.

In „Die Präsidentinnen“, dem Stück, das als eines der Fäkaliendramen Schwabs bezeichnet wird, schrieb der schon jung vom Leben gezeichnete Mann seine Erkenntnisse von jener dunklen Seite des Lebens, die viele Menschen in Friedenszeiten zum Glück nie erleben, andere jedoch aber mit all der zerstörerischen Kraft selbst am eigenen Leib spüren müssen. Liest man über Schwabs schwere Kindheit, wird einem klar, dass es zwei Rollen in dem Stück gibt, die autobiografischen Hintergrund aufweisen. Aber eigentlich wichtig ist dieses Wissen für das Verständnis des Stückes nicht, obwohl Schwab selbst äußerste, in einem Präsidentinnenhaushalt groß geworden zu sein.

Die drei Protagonistinnen interagieren an diesem Abend im Volkstheater in gänzlich anderen Kostümen als den landläufig bekannten. Sie stecken nicht in Arbeitsschürzen, sondern legen in der ersten Szene nach und nach Schminke auf, toupieren ihre Haare und wechseln die Bademäntel gegen pastellfarbige, bodenlange Abendroben. Keine Spur mehr von Abortfrauen, zumindest rein äußerlich. Ihre Sprache jedoch legen sie nicht wie ihre Kleidung ab, um in eine andere zu schlüpfen. Die deftig-kräftige Schwab´sche Diktion bleibt durchgehend erhalten und es gibt nur wenige Minuten, in welchen Scheißdreck oder Stuhl keine Erwähnung finden. Die Spannungen zwischen Erna und Grete schaukeln sich in der Inszenierung von Miloš Lolić, der am Volkstheater schon bei Magic Afternoon von Wolfgang Bauer Regie führte und damit den Nestroypreis erhielt, so hoch, dass es schließlich zu einer Rauferei kommt. Einer waghalsigen, denn das Bühnenbild besteht nur aus einer schwarzen, den gesamten Bühnenraum einnehmenden Treppe, die im Hintergrund von einer Fototapete begrenzt wird, auf welcher der gespiegelte Zuschauerraum zu sehen ist. Auf den obersten Stufen balgen sie sich, so lange, bis das Mariedl einschreitet und die Streithennen trennt.

Das Bühnenbild von Hyun Chu – nach und nach senkt sich für die Szene im Bierzelt eine leuchtend rote Wand wie aus glitzerndem Geschenkpapier vor den Zuschauerraumprospekt, um danach von einer tiefschwarzen, alles Licht absorbierenden verdeckt zu werden – spiegelt die jeweils seelische Befindlichkeit der Präsidentinnen augenfällig. Bei jener orgiastisch aufgebauten Szene, in die sich die drei Frauen wie in eine Trance hineinmanövriert haben, um von ihren Liebesabenteuern und erfolgreichen Kloreinigungen zu fantasieren, strahlt das kräftige Rot durch ihre Herzen und Unterleiber hindurch. Mit der Verwendung eines Mikrofons, in welches die einzelnen Monologe immer schneller und schneller abwechselnd gesprochen werden, bis es Erna die Stimme beinahe überschlägt, präsentieren sie sich als Entertainerinnen und unterstreichen, während eine von ihnen redet, deren  Ausführungen im Hintergrund mit Choreografien, wie von einem schlechten Fernsehballett.

Von Beginn an, an dem Erna feststellt „Jö, so viele Leute“ und damit das Publikum meint, bleibt die Interaktion mit demselben bis zur letzten Minute aufrecht. Mariedl blinzelt neckisch in die Menge, während sie sich die Nägel lackiert, und nimmt explizit Blickkontakt mit den Menschen in den vorderen Logen auf, als sie von der „feinen Gesellschaft“ spricht, die ihr fürs „Klofreimachen“ immer Handschuhe bereithält. Erna wirft ihre zu Beginn getragene Pelzmütze in die erste Reihe, um diese am Schluss wieder einzufordern. Und Grete fragt einen Besucher nach seinem Namen, bevor sie von ihrer Bierzeltliebe Fredi zu erzählten beginnt. Die spontane Aussage, als ein Ehepaar die Vorstellung verlässt: „Die müssen aufs Klo“, von Katja Kolm, wird mit Applaus quittiert – man spürt – hier darf mitgespielt werden, mehr noch, hier ist man ein Teil des Geschehens, nicht nur passives Zuschauermaterial. Eine der Stärken dieser Aufführung.

Zumindest in Österreich sind die historischen Personenbezüge zu Papst Johannes Paul II – Karol Józef Wojtyła – und dem damaligen Präsidenten Kurt Waldheim – nach wie vor präsent. Und so evozieren gerade jene Sätze, mit welchen Erna beständig den Pontifex und den Bundespräsidenten zitiert und deren Autorität als unbedingt darstellt, Lachsalven. In der Inszenierung von Lolić wird Schwabs Text, nicht wie in so vielen anderen, ungekürzt aufgeführt und so ist nicht die Auferstehungsszene von Mariedl die letzte, sondern ihre Ermordung durch ihre beiden Freundinnen. Sie wollen sich von ihr ihre Träume nicht kaputt machen lassen, hat das Mariedl ihnen doch zuvor ein grausames Ende, das sie durch ihre Kinder erfahren werden, an die Wand gemalt. Des Schreckens noch nicht genug, setzt Grete dem Geschehen noch einen verbalen Tiefpunkt auf – sie möchte dem toten Mariedl die Zunge herausschneiden, um diese an ihr Hündchen Lydia zu verfüttern. Jener schwarze Moment geht tief unter die Haut, kippt die Lächerlichkeit von der Bühne und landet mit aller Wucht im Publikum.

Es ist nur der Regie von Miloš Lolić zu verdanken, der übrigens auch für die Inszenierung von • YDP I • Hinkemann, einer Tragödie von Ernst Toller bei den kommenden Salzburger Festspielen verantwortlich zeichnet, dass die Grabesstimmung noch einmal kippt. Er erweckt das Mariedl wieder zum Leben und lässt die drei Frauen sich in jenen Zustand zurückverwandeln, in welchem sie auf die Bühne kamen. Ungeschminkt, und in ihren Bademänteln verlassen sie den Zuschauerraum, ineinander eingehängt, wie sie gekommen sind. Diesmal hat ihr Lied allerdings auch einen Text. Einen tiefschwarzen, Schwab´schen, klarerweise, in dem er den Herrgott einen Autobus, einen Zwetschgenbaum und eine Melkmaschin`sein lässt. Als sarkastisch witzig präsentiert er darin seine Religionsinaffinität, genauso, wie sie auch im Stück beständig auftritt, ohne jedoch Gott explizit zu verleugnen.

Katja Kolm, Claudia Sabitzer und Martina Stilp füllen ihre Rollen zu gleichen Teilen mit draller Weiblichkeit und Stimmgewalt und erweitern gerade mit ihrer in dieser Inszeierung zur Schau getragenen Eleganz garantiert die zukünftigen Rollenbesetzungen dieses Stückes. Noch im Jänner dieses Jahres waren Erni Mangold, Johanna Mertinz und Krista Schweiggl in einer szenischen Lesung der „Präsidentinnen“ im Schauspielhaus in Wien zu Gast und beeindruckten mit ihrer Interpretation der vom Leben so Gebeutelten. Größer hätte der Kontrast zur Insezenierung im Volkstheater wohl nicht ausfallen können – interessanter aber auch nicht.

Jenen Menschen, die sich nach wie vor über die Ethik von Schwabs Stück erregen können und die Nase darob rümpfen, sei bescheinigt, dass sie zu jenen Glücklichen gehören, die dem Leben noch nie in den Hintern schauen haben müssen. Und diese Feststellung kommt nicht von Werner Schwab.