Von Stefan Sasse
Das Internet vergisst nur wenig. Was einmal irgendwo gepostet war kann von jemandem, der es nur entschlossen genug sucht, häufig genug wiedergefunden werden, ganz besonders dann, wenn die Kontrolle längst bei Instanzen außerhalb der persönlichen Kontrolle liegt - vom peinlichen Party-Foto bei Facebook bis zum Wutausbruch auf Youtube ist alles möglich, leicht zu vervielfältigen und von den jeweiligen Plattformhostern nur träge zu beseitigen. Solcherlei peinlichen oder gar schädlichen Dinge im Netz aufzufinden gehört daher zu den leichteren Übungen, und die Verzweiflung darüber, unangenehme Seiten des eigenen Selbst jederzeit bei der Google-Suche finden zu können, gehört zu den Schattenseiten des Netzes. Nur macht es wenig Sinn, "dem Netz" einen Akteursstatus zu unterstellen, als ob allein seine Existenz dafür verantwortlich wäre, dass solcherlei Dinge passieren. Das Internet ist ein Instrument, ein Medium, ein Werkzeug, und dahinter stehen Menschen, die die Verantwortung für ihre Handlungen tragen oder doch zumindest tragen sollten. In der Akteurisierung des Internets findet eine Flucht aus dieser Verantwortung statt.
Daniel Cohn-Bendit gehört wohl zu den profiliertesten Vertretern der 1968-Revolution. Der Aufstand gegen das Establishment und das absichtliche Brechen von kulturellen Tabus und sozialen Normen war den Akteuren jener Zeit ein deutliches Anliegen. Es ist nicht überraschend, dass die Leute damals in ihrem Überschwang auch über das Ziel hinausschossen und Sachen sagten, die sie später wohl gerne vergessen haben. Dazu gehören die KBW-Zeiten des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann genauso wie die Steinewerfer-Episoden Joschka Fischers. Cohn-Bendits Last der Vergangenheit liegt in seiner Zeit als Kindergärtner begründet, über die er ein Buch schrieb und in einer französischen Talkshow etwas freizügig redete. "Ich wasche ihnen den Popo, ich kitzele sie, sie kitzeln mich. Wir schmusen." Sätze wie dieser kommen nun, 40 Jahre später, wieder zurück und suchen den Politiker heim: Der Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle sagte eine Festrede für Cohn-Bendit bei der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises ab. Seine Begründung: Cohn-Bendit habe sich "vor 40 Jahren in nicht unproblematischer Weise zur Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen geäußert". Ja, das hat er wohl. In seinem Stern-Artikel "Der persönliche Fehler im Zeitalter des Webs" macht Lutz Kinkel dafür das Internet verantwortlich:
Offensichtlich aber versagen andere Größen vollkommen in der Einordnung. Niemand erwartet vom Youtube-Mob, dass er irgendwie differenziert an die Sache herangeht. Die Lektion der Boulevard-Presse, dass schrille Skandale Aufmerksamkeit, Auflage und Klicks generieren, längst von anderen Leitmedien wie dem Spiegel verinnerlicht, geht natürlich auch an Internet-Plattformen nicht vorbei. Im Falle Cohn-Bendit aber haben wir einen Verfassungsrichter, Andreas Voßkuhle, der offensichtlich nicht in der Lage ist, diese Einordnung zu treffen. Seine Begründung ist geradezu grotesk: Cohn-Bendit habe sich "vor 40 Jahren in nicht unproblematischer Weise zur Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen geäußert"? Und das reicht Voßkuhle? Hier wird überhaupt nicht eingeordnet. Hier wird einem erwarteten Shitstorm vorgegriffen, ein Flächenbrand praktisch präventiv angefacht bevor man unvorbereitet erfasst wird. Das auf das Internet zu schieben ist eine Flucht aus der eigenen Verantwortung. Viele Phänomene dieser Art werden überhaupt nur bekannt, weil die Leitmedien ausführlich und ohne ehrliche Einordnung darüber berichten. Joschka Fischers Steinewerfer-Episode ist so ein Beispiel, und wer noch mehr braucht kann problemlos in der Berichterstattung über die Piratenpartei weitere finden.
Lutz Kinkel hat das begriffen. Es erscheint daher nur angemessen, ihm die letzten Worte einzuräumen:
Das Internet vergisst nur wenig. Was einmal irgendwo gepostet war kann von jemandem, der es nur entschlossen genug sucht, häufig genug wiedergefunden werden, ganz besonders dann, wenn die Kontrolle längst bei Instanzen außerhalb der persönlichen Kontrolle liegt - vom peinlichen Party-Foto bei Facebook bis zum Wutausbruch auf Youtube ist alles möglich, leicht zu vervielfältigen und von den jeweiligen Plattformhostern nur träge zu beseitigen. Solcherlei peinlichen oder gar schädlichen Dinge im Netz aufzufinden gehört daher zu den leichteren Übungen, und die Verzweiflung darüber, unangenehme Seiten des eigenen Selbst jederzeit bei der Google-Suche finden zu können, gehört zu den Schattenseiten des Netzes. Nur macht es wenig Sinn, "dem Netz" einen Akteursstatus zu unterstellen, als ob allein seine Existenz dafür verantwortlich wäre, dass solcherlei Dinge passieren. Das Internet ist ein Instrument, ein Medium, ein Werkzeug, und dahinter stehen Menschen, die die Verantwortung für ihre Handlungen tragen oder doch zumindest tragen sollten. In der Akteurisierung des Internets findet eine Flucht aus dieser Verantwortung statt.
Daniel Cohn-Bendit gehört wohl zu den profiliertesten Vertretern der 1968-Revolution. Der Aufstand gegen das Establishment und das absichtliche Brechen von kulturellen Tabus und sozialen Normen war den Akteuren jener Zeit ein deutliches Anliegen. Es ist nicht überraschend, dass die Leute damals in ihrem Überschwang auch über das Ziel hinausschossen und Sachen sagten, die sie später wohl gerne vergessen haben. Dazu gehören die KBW-Zeiten des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann genauso wie die Steinewerfer-Episoden Joschka Fischers. Cohn-Bendits Last der Vergangenheit liegt in seiner Zeit als Kindergärtner begründet, über die er ein Buch schrieb und in einer französischen Talkshow etwas freizügig redete. "Ich wasche ihnen den Popo, ich kitzele sie, sie kitzeln mich. Wir schmusen." Sätze wie dieser kommen nun, 40 Jahre später, wieder zurück und suchen den Politiker heim: Der Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle sagte eine Festrede für Cohn-Bendit bei der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises ab. Seine Begründung: Cohn-Bendit habe sich "vor 40 Jahren in nicht unproblematischer Weise zur Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen geäußert". Ja, das hat er wohl. In seinem Stern-Artikel "Der persönliche Fehler im Zeitalter des Webs" macht Lutz Kinkel dafür das Internet verantwortlich:
In der digitalen Welt ist alles archiviert und in Sekundenschnelle abrufbar, für jedermann. Das Cohn-Bendit-Video ist im Netz. Die Talkshow, in der Nina Hagen das Onanieren demonstriert. Dirk Niebel als hässlicher Deutscher mit Bundeswehrmütze in Afrika. Jürgen Rüttgers' peinliche Attacken gegen Rumänen. Alles Quellen, audiovisuell, ohne Einordnung, emotional überwältigend und das Image des Betroffenen prägend. Und scheinbar allzeit aktuell. Das Netz verwirrt unseren Begriff der Zeit, es gaukelt einen ahistorischen Raum vor, in dem es kein davor und danach gibt. Das erschwert Betrachtungen und fördert schnelle, vernichtende Urteile. Cohn-Bendit ist angeblich Kinderschänder, Niebel ist ein Militarist, Rüttgers ist Ausländerfeind. Tausendfach geliked, geshared, kopiert, weiter kolportiert fressen sich solche Aussagen im Netz fest. Das digitale Gedächtnis orientiert sich, darin dem menschlichen staunenswert ähnlich, nicht an Fakten, sondern am emotional aufgeladenen Bild. Das macht es für Personen des öffentlichen Lebens besonders gefährlich.Kluge Gedanken. Allein, Formulierungen wie "das digitale Gedächtnis"gaukeln eine Art von Kollektivorgan vor, die diese Handlungen vollzieht und so den Ruf von Personen nachhaltig zerstört. Tatsächlich Kinkel ja Recht, wenn er den Effekt des Nicht-Vergessens und der fehlenden Einordnung beklagt. Aber es gibt Personen, die dafür verantwortlich sind, und ich rede nicht vom Youtube-Mob. Deren Beitrag besteht darin, die jeweiligen Episoden lebendig zu halten, ihre Existenz in jenes "digitales Gedächtnis" einzubrennen, das sich dann in der Google-Autovervollständigung Bahn bricht. Die wahre Problematik aber handelt er in einem Einschub von zwei Worten ab, der lediglich eine ergänzende Aufzählung ist: ohne Einordnung. Die professionelle Einordnung von Geschehnissen ist das eigentliche Kerngeschäft des Journalismus, und eines bei dem die Leitmedien seit Jahren katastrophale versagen. Nicht Kinkel in seinem Artikel, den Eindruck wollen wir gar nicht entstehen lassen. Er erklärt mustergültig die Hintergründe von Cohn-Bendits Äußerung aus den Siebziger Jahren und ordnet ein, wie ernst wir sie nehmen müssen: gar nicht nämlich.
Offensichtlich aber versagen andere Größen vollkommen in der Einordnung. Niemand erwartet vom Youtube-Mob, dass er irgendwie differenziert an die Sache herangeht. Die Lektion der Boulevard-Presse, dass schrille Skandale Aufmerksamkeit, Auflage und Klicks generieren, längst von anderen Leitmedien wie dem Spiegel verinnerlicht, geht natürlich auch an Internet-Plattformen nicht vorbei. Im Falle Cohn-Bendit aber haben wir einen Verfassungsrichter, Andreas Voßkuhle, der offensichtlich nicht in der Lage ist, diese Einordnung zu treffen. Seine Begründung ist geradezu grotesk: Cohn-Bendit habe sich "vor 40 Jahren in nicht unproblematischer Weise zur Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen geäußert"? Und das reicht Voßkuhle? Hier wird überhaupt nicht eingeordnet. Hier wird einem erwarteten Shitstorm vorgegriffen, ein Flächenbrand praktisch präventiv angefacht bevor man unvorbereitet erfasst wird. Das auf das Internet zu schieben ist eine Flucht aus der eigenen Verantwortung. Viele Phänomene dieser Art werden überhaupt nur bekannt, weil die Leitmedien ausführlich und ohne ehrliche Einordnung darüber berichten. Joschka Fischers Steinewerfer-Episode ist so ein Beispiel, und wer noch mehr braucht kann problemlos in der Berichterstattung über die Piratenpartei weitere finden.
Lutz Kinkel hat das begriffen. Es erscheint daher nur angemessen, ihm die letzten Worte einzuräumen:
Ein Journalist, der sich fürs Nachdenken und Schreiben bezahlen lässt, kann nichts gegen die Informationsfülle des Netzes haben. Aber er muss seine Maßstäbe genau kalibrieren: Gestern ist nicht heute, das schnell Begreifbare ist nicht unbedingt das Wesentliche, ein massenhaft verbreitetes Gerücht bleibt ein Gerücht und jeder Mensch hat das Recht auf eine zweite Chance. Sind wir nicht hinreichend fehlertolerant, wird niemand mehr etwas wagen, skandalisieren wir jeden verunglückten Satz, haben wir in Öffentlichkeit bald nur noch Sprechroboter. Hysterien müssen als solche kenntlich gemacht, oder noch besser: ignoriert werden.