Vielleicht lohnt sich beschweren ja doch, aber warum geht’s nicht auch ohne? Ich versteh es einfach nicht. Es kommt also Bewegung in die Sache, endlich wird was getan. Den Tag zuvor denkt man, es wird doch alles nicht mehr funktionieren und was soll ich tun und plötzlich gehen die Wolken auf. Also nur noch das Wochenende überstehen, dann wird alles anders. Wenn da diese Schmerzen nicht wären, könnte man sich drauf konzentrieren, einem guten Freund Lebewohl zu sagen. Und er war mir ein guter Freund. Was wir nicht alles zusammen durchgestanden haben. Acht Jahre sind eine verdammt lange Zeit, die ich, wie ich finde, gut genutzt habe. Und was ist alles passiert: endlich hatte ich eine berufliche Perspektive entwickelt, einen sicheren Job angetreten, meine Beziehung ging endgültig in die Brüche, gefolgt von der Einsicht, dass es ruhig hätte schon eher passieren können. Meine Ansprüche fingen an zu wachsen, an mich, an mein Leben, an meine Ziele. Kennt ihr das auch? Man fragt sich irgendwann, soll das schon alles sein? Oder ich dachte auch, jetzt habe ich so vieles erreicht, von dem ich vorher nicht gedacht hätte, dass es möglich wäre, was geht denn noch alles? Warum nicht aus dem Vollen schöpfen? Warum nicht das Leben genießen? Und da bin ich meinem Freund auch dankbar. Was er nicht alles möglich gemacht hat: Kinobesuche, auch in der ersten Reihe. Dadurch, dass man sich nach hinten lehnen konnte, war das auch nicht mehr schlimm. Ich hab alle meine Zahnfüllungen auf Keramik umgestellt, weil ich einfach das schummrige Grau nicht mehr sehen wollte. Das ging auch nur, weil mein Rollstuhl sich gefühlt in alle Himmelsrichtungen verstellen ließ. Plötzlich musste man nicht mehr mit 3-4 Leuten zum Zahnarzt, die einen umsetzen. Ich ziehe auch Röcke an, also bis zu dem Zeitpunkt, als der Sitz aufhörte, sich verstellen zu lassen. Es ist einfach ein anderes Lebensgefühl, wenn einem so viele Sachen, die für alle anderen selbstverständlich sind, ermöglicht werden. Mein Gott, ich hab das Gefühl, dass meine Möglichkeiten, Behinderung hin oder her, unendlich sind. Und das ist ein gutes Gefühl.
Werde ich das der AOK erklären können? Das es hierbei nicht um den Mindeststandard geht, sondern um Lebensqualität, um Lebensfreude, um die Möglichkeiten einer Teilhabe. Sogar mehr als das, weil das Notwendige vorhanden sein muss und erst dann kann man sich über das große Ganze Gedanken machen. Ich habe vor dem Gespräch Angst. Nicht nur, dass man mir nicht zuhört und meine Vision nicht versteht, nein, was ist, wenn ich als Nervensäge abgestempelt werde? Ich versuche, mich weitgehendst auf das Gespräch vorzubereiten, in dem Wissen, dass ich nicht zufrieden sein werde. In erster Linie mit mir selbst.
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